71. Kapitel - Die ganze Wahrheit?

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Panik schoss durch meine Adern. Ich sah Lian dabei zu, wie er einen weiteren Schluck von dem manipuliertem Kaffe trank. Erst jetzt realisierte ich was ich getan hatte. Erst jetzt verstand ich die Konsequenzen meines Handelns. Er würde mich hassen, wenn er davon erfuhr. Ich zwang ihn dazu die Wahrheit zu sagen. Ich zwang ihn dazu über das zu reden, über das er nicht reden wollte. Ich war furchtbar. Ich wollte alles rückgängig machen. Ich wollte ihm die Tasse aus der Hand reißen und ihn anschreien, dass Zeug wieder auszuspucken. Doch dafür war es zu spät. Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Eine schlechte Entscheidung, eine dumme Entscheidung. Aber ich hatte sie getroffen und jetzt musste ich zu ihr stehen. Ich musste es durchziehen und ich musste meine Chance nutzen, um endlich die Wahrheit zu erfahren.

Ich sah Lian genau an, studierte seine Gesichtszüge. Woher wusste ich, dass das Serum wirkte? Woran würde ich das merken? Wie lange würde es brauchen? Drei Minuten. Drei Tropfen - Drei Minuten. Aber wann waren diese Minuten um?

„Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe", sagte Lian plötzlich in die Stille hinein.

„Schon gut", entgegnete ich angespannt.

„Ne, das ist nicht okay. Ich habe versprochen ehrlich zu dir zu sein und dann habe ich dich genau über diese eine Sache angelogen, über die ich dich nicht hätte anlügen dürfen." Ich sah ihm in die Augen und da bemerkte ich es. Das Serum wirkte und Lian sprach genau das aus, was er dachte und was er fühlte. Seine Augen waren plötzlich glasklar und er starrte mit ihnen wie benommen an mir vorbei, während er nicht aufhörte seine Gedanken mit mir zu teilen. Ich musste ihm nicht lange zuhören, um zu verstehen, wie leid ihm seine Lüge tat, es tat ihm richtig weh. Ich hatte Lian längst verziehen, als er sich immer noch erklärte. Also unterbrach ich ihn abrupt und stellte noch einmal die Frage, die ich stellen musste:

„Hast du deinen Bruder umgebracht?"

„Ja", antwortete er mit starren Augen. Ich wollte etwas sagen, doch Lian machte keine Pause, er begann die ganze Wahrheit zu erzählen:

„Mein Bruder war lange krank. Ich habe erst zu spät herausgefunden, dass Janine ihn mit ihrem bösen Talisman jeden Tag kränker gemacht hat. Irgendwann ist er daran gestorben. Ich habe mich noch nie so leer gefühlt, wie an diesem Tag. Ich habe noch noch nie so einen Schmerz gefühlt. Ich musste..."

„Stopp, hör auf! Ich will es nicht hören", unterbrach ich ihn schnell. Doch Lian konnte nicht aufhören weiterzusprechen. Seine Worte und Erklärungen prasselten unweigerlich auf mich ein.

„...zurückholen. Also habe ich ein Ritual angewendet, um ihn von den Toten..."

„Lian bitte hör auf! Ich will nicht, dass du mir davon so erzählst", sagte ich energisch, packte ihn an den Schultern und begann ihn zu schütteln. Doch Lian konnte mich nicht hören. Er reagierte auf nichts was ich sagte und sprach einfach weiter:

„Ich habe einen schlechten Deal gemacht. Ich habe jemanden umgebracht, der kurz vor dem Sterben war und in diesem Zustand ist..."

„...dein Bruder zurückgekehrt", beendete ich seinen Satz, während er genau das Gleiche sagte.

Ich sprang auf und flüchtete nach draußen. Panisch hielt ich mir die Ohren zu und rannte so schnell ich konnte weg von ihm. Tränen flossen mir über die Wangen, während ich hektisch zu atmen begann. Was hatte ich getan? Was. Hatte. Ich. Getan? Ich war schrecklich, ich war furchtbar. Ich war schlimmer als Janine. Ich hatte ihn gezwungen. Ich hatte ihn gezwungen mir von seinen schlimmsten Erlebnissen zu erzählen, von dem, das ihn am verletzlichsten machte. In einem Zustand, in dem er nicht mal im Ansatz zurechnungsfähig war.

Ein schlechtes Gewissen überkam mich. Mir wurde schlecht, ich spürte wie sich eine Blockade in meinem Hals bildete. Mein Herz raste, die Luft wurde knapp und in mir breitete sich ein so schlimmes Gefühl aus, dass ich den Wunsch verspürte sterben zu wollen. Ich hatte of ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch kein einziges Mal war es auch nur annähernd so heftig gewesen, wie jetzt. Ich hatte mein Versprechen gebrochen. Ich hatte mein Versprechen gebrochen ihm Zeit geben zu wollen. Ich hatte ihn zu etwas gezwungen, nur wegen meiner eigenen Unsicherheit. Ich hatte sein Vertrauen in mich kaputt gemacht. Ich hatte alles kaputt gemacht. Ich war so dumm und so idiotisch. Wie hatte ich das tun können? Wie hatte ich ihm das antun können? Ich war die schlimmste Person, die ich kannte. Ich hasste mich.

„Sam?" Ich blieb stehen und sah hinter mich. Lian stand am Eingang und sah zu mir. Von weitem erkannte ich, dass das Serum seine Wirkung verloren hatte. Lian war wieder zurechnungsfähig.

Hektisch lief ich auf ihn zu. Weitere Tränen rollten meine Wangen hinunter. Ich konnte nicht fassen, dass ich so dumm gewesen war. Ich konnte es einfach nicht fassen!

Ich blieb dicht vor ihm stehen und sah ihm in die Augen. Das Glänzen war verschwunden. Er hatte aufgehört zu starren. Stattdessen sah nun auch er mir in die Augen. In seinem Blick und seiner Mimik versuchte ich irgendetwas Freundliches zu finden. Irgendetwas, das mir sagte, dass er mich nun nicht abgrundtief hassen würde. Doch da war nichts, rein gar nichts. Da war keine Emotion, da war einfach nichts. Und das machte mich nur noch verrückter. Lian sah aus, als würde er überhaupt nichts mehr fühlen, keine Berührungen, keine Emotionen und erst recht nichts mehr für mich.

„Es tut mir so leid... ich wollte das nicht", sagte ich hektisch, doch es klang lächerlich. Meine Stimme war so dünn und zaghaft, dass man es ihm nicht übel nehmen würde, wenn er zu lachen angefangen hätte. Aber Lian lachte nicht. Er tat gar nichts, außer mir in die Augen zu starren. Ich wollte das nicht? Das war eine so lächerliche Ausrede, dass ich mich nun selbst schämte. Ich hatte das nicht gewollt? Was hatte ich dann gewollt? Die Wahrheit und das um jeden Preis. Ich musste also auch die Konsequenzen der Wahrheit tragen.

„Es war wegen Ginger... und du hast mir nicht geantwortet... ich bin verrückt geworden... ich hatte Angst... ich wollte nicht... ich wollte..." Meine Stimme erstickte in einem Schluchzen. Das war so lächerlich. Jede Erklärung, die ich versuchte, war lächerlich. Ich war lächerlich. Was versuchte ich hier zu rechtfertigen? Dass ich ihn zur Wahrheit gezwungen hatte? Das war nicht zu rechtfertigen.

„Ich weiß nicht was mich da geritten hat", sagte ich schließlich und holte tief Luft. Aber das war genauso lächerlich. Alles an mir war lächerlich. Ich nahm einen weiteren tiefen Atemzug und wartete auf eine Reaktion von Lian. Doch er stand unverändert vor mir und starrte mir weiterhin nur in die Augen. Wirkte das Serum doch noch?

„Hasst du mich jetzt?", fragte ich mit zitternder Stimme. Lian reagierte nicht.

„Ich kann es verstehen, wenn du mich jetzt hasst", sprach ich weiter, aber Lian zeigte immer noch keine Reaktion.

„Kannst du mir bitte wenigstens eine Antwort geben? Irgendwas?", flehte ich nun förmlich. Ich betete dafür, dass er mich nicht hassen würde und dass das alles sich irgendwie wieder einrenken würde. Doch in meinem Kopf fand ich keinen Weg, wie wir das hinbekommen sollten.

Ich bekam Angst, dass er es jetzt beenden würde. Das, was noch nicht mal so richtig angefangen hatte. Ich hatte vor allem Angst. Doch das was er mir daraufhin antwortete, war noch viel schlimmer.

„Ich fühle gar nichts." 

Magie oder Schicksal? (3.Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt