64. Kapitel - Ein Teil der Wahrheit

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich Lians seltsamer Gefühlszustand gelegt. Es war nicht das erste Mal, dass er so tat, als wäre am Vorabend nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Er begrüßte mich mit den gleichen, wohligen Kuscheleinheiten, wie er es sonst auch tat und hatte für diese frühe Uhrzeit definitiv zu gute Laune. Wieder einmal wägte ich ab, ob ich ihn darauf ansprechen sollte. Aber was sollte ich schon fragen? Und was konnte ich als Antwort erwarten? Wahrscheinlich bereute er es mir davon erzählt zu haben. Er war noch nicht bereit gewesen und ich fragte mich ein weiteres Mal, warum er es überhaupt für nötig gehalten hatte mir jetzt davon zu erzählen. Dachte er vielleicht er sei mir das schuldig? Weil ich einen Schritt auf ihn zugegangen war und seine Nähe zugelassen hatte, obwohl ich davor eigentlich so große Panik gehabt hatte? Das wäre Quatsch, er war mir überhaupt nichts schuldig. Ich hatte mich dazu entschieden, weil ich es in diesem Moment gewollt hatte und alles was danach kam, wollte ich auch.

„Wer war eigentlich diese Frau gestern?" Diese Frau? Meinte er Mrs. Rutherford?

„Was?", fragte ich, um mir einen Moment Zeit zu schaffen, damit ich mir eine Antwort überlegen konnte.

„Gestern sind wir auf dem Weg ins Zimmer einer Frau begegnet, wer war das?", wiederholte er und nahm anschließend einen Schluck von seinem Kaffee. Nervös ließ ich meinen Blick durch den Raum wandern. Wir waren früher dran als sonst. Die Cafeteria war um einiges leerer. Ich hatte sowieso nicht verstanden warum Lian so ungewöhnlich früh aufgewacht war und dann auch noch unbedingt gleich zum Frühstück hatte gehen wollen. Ich hätte gerne jede Minute Schlaf genossen, die ich bekommen konnte. Denn nach dem gestrigen Gespräch hatte ich Ewigkeiten gebraucht, um einzuschlafen und war dementsprechend ziemlich müde.

„Sam?"

„Ähm... Mrs. Rutherford?", fragte ich und wollte mit dieser unnötigen Frage wieder nur Zeit schinden. Ich versuchte mir noch im Klaren darüber zu werden, wie viel ich Lian von ihr und unseren Treffen wirklich erzählen wollte. Eigentlich nur das Nötigste.

„Wenn sie so heißt, dann ja?", entgegnete er schulterzuckend und stellte seine Kaffeetasse wieder auf dem Tisch ab. Lässig lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und sah mich gespannt an. Ich hingegen runzelte leicht die Stirn. Seine Antwort ließ vermuten, dass er gestern überhaupt nicht aufmerksam gewesen sein konnte. Ich hatte sie schließlich mit Mrs. Rutherford angesprochen. Dass er sich nicht an den Namen erinnern konnte, war das Eine. Doch spätestens jetzt, wo ich ihn noch einmal wiederholt hatte, hätte es bei ihm doch Klick machen müssen.

„Ich kenne sie vom Weißen Orden", entgegnete ich knapp.

„Vom Weißen Orden?", wiederholte er skeptisch.

„Ja, sie hat dort mal so etwas wie Therapiestunden angeboten." Ich blickte auf meinen Teller. Das Schokobrötchen sah zwar lecker aus, doch mir war der Appetit vergangen. Ich wusste einfach nicht so recht wie ich die Situation erklären sollte, ohne zu erwähnen, dass ich Therapiestunden mit Mrs. Rutherford gehabt hatte. Rückblickend kam mir das sowieso lächerlich vor. Ich meine ich hatte tatsächlich in ihrem Büro gesessen, um über Jayden zu sprechen. Gut, Jayden hatte einige wirklich eklige Dinge abgezogen, keine Frage, aber war es so schlimm gewesen, dass ich tatsächlich therapiert werden musste? Je länger ich darüber nachdachte, desto unangenehmer wurde es mir. War es Mrs. Rutherford nicht vielleicht sogar auch lächerlich vorgekommen? Ich meine in Therapie zu sein wegen Liebeskummer klang wirklich... lächerlich.

Ich begann mich an die Zeit mit Jayden zu erinnern. Es kam mir so vor, als hätte ich noch immer keinen einzigen Moment mit ihm vergessen und auch die Gefühle, die ich zu dieser Zeit gefühlt hatte, waren noch so präsent, wie damals.

Sam?

Ich erinnerte mich ganz genau an dieses euphorische Hoch, das ich nur durch ihn erlebt hatte und wie erdrückend es sich im Gegensatz dazu angefühlt hatte, als die Wahrheit ans Licht gekommen war. Die Hoffnungen, die ich mir danach gemacht hatte und wie niederschmetternd es gewesen war, endgültig einzusehen, dass das mit uns niemals eine Zukunft haben würde.

Magie oder Schicksal? (3.Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt