Mir war ungewöhnlich kühl in dieser warmen Sommernacht. Ich zog mir eine Strickjacke über und spürte schon im nächsten Moment die leichte Wärme, die sich über mich legte, als der Stoff meine Haut berührte. Zufrieden trat ich ans offene Fenster heran. Draußen war es bereits dunkel. In dieser Nacht war der Himmel besonders klar. Unzählige Sterne leuchteten am in der weiten Unendlichkeit. Selbst die Milchstraße war von diesem kleinen Fenster aus zu erkennen. Ich mochte die kühle Luft, die Abwechslung zu den sonst so heißen, drückenden Sommertagen bot. Ich nahm tiefe Atemzüge und genoss das Gefühl der Ruhe.
Mein Blick fiel auf den runden, großen Mond. Vor kurzem erst war Vollmond gewesen. Doch jetzt war er bereits dabei kleiner zu werden. Noch hatte er nicht mal die Hälfte seiner Fülle verloren. Er strahlte in der Dunkelheit und wie so oft, stellte ich fest, dass es besonders der Mond war, der in mir Faszination hervorrief. Ich wusste nicht woran es lag, aber ich mochte es. Vielleicht war es seine starke Leuchtkraft oder sein Wandel von einer spitzen Sichel, zu einem vollen, mächtigen Gebilde, was mich so faszinieret. Vielleicht aber waren es auch die Märchen und Gerüchte, die er mit sich brachte. Oder es war seine Macht, die er über das Meer hatte. Dass er den Sand überfluten oder ihm das Wasser nehmen konnte, dass er für Ebbe und Flut verantwortlich war. Dieses Phänomen war für mich reine Magie. Wie konnte der Mond, obwohl er so weit weg war, das Meer beeinflussen? Mir war klar, dass es dafür wissenschaftliche Erklärungen gab. Irgendwas mit Gravitation und Anziehungskraft. Aber damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Ich mochte viel mehr die Vorstellung von etwas Magischem.
Es fiel mir schwer mich von dem Fenster und meiner Faszination für die Nacht und den Mond loszureißen. Doch in mir kam das dringende Bedürfnis auf diese Schönheit festzuhalten. Ich stellte mich vor meinen Schreibtisch und kramte nach meinem Zeichenblock. Hektisch blätterte ich auf eine freie Seite und begann eine Skizze des Mondes zu zeichnen. Ich musste mich beeilen. Der Himmel schien wolkenlos zu sein, doch was, wenn sich vor den Mond eine Wolke schieben würde? Dann würde sie ihm sein Leuchten nehmen. Das wollte ich verhindern.
Die Umrisse hatte ich schnell festgehalten. Jetzt ging es an die tiefen Krater, die von der Erde wie dunkle Schatten aussahen. Ich war wie hypnotisiert von seiner Erscheinung und ich liebte es, dass ich ihn vom Tisch aus sehen konnte. Meine Hände führten den Bleistift wie von selbst über das Papier, während ich meinen Blick von dem silbernen Mond nicht abwenden konnte. Er sah so schön aus, in der dunklen, schwarzen Nacht. Neben ihm waren alle Sterne unbedeutend. Er war das einzige, große Licht hier draußen. Die einzige Hoffnung. Und trotzdem lagen auf ihm diese Krater, seine Schatten.
Obwohl ich keinen Blick auf das Papier warf, war ich mir sicher, dass ich die Krater perfekt und genau so, wie sie von hier aussahen, zeichnete. Erst als ich jeden, einzelnen Schatten auf dem Papier verewigt hatte, senkte ich den Blick. Mein Mond stand kurz vor der Perfektion. Es fehlten nur noch die Schattierungen und ein Feinschliff. Ein Lächeln legte sich in mein Gesicht, denn ich wusste, das war nicht mehr viel Arbeit. Und da draußen schien es keine einzige Wolke zu geben. Ich ließ mir Zeit und ich zeichnete die Schattierungen so genau und detailliert, dass man fast denken könnte ich hätte den Mond aus dem Himmel genommen und ihn auf meinen Schreibtisch gelegt. Zufrieden legte ich den Stift ab und machte einen Schritt von meinem Werk weg, um es zu bewundern. Das war wahre Perfektion. Trotzdem fehlte etwas.
Ich nahm den Stift wieder in die Hand und setzte die Miene auf das Papier. In die oberste, rechte Ecke. Ich wusste nicht was ich tat oder was ich zeichnete. Ich ließ die Linien von ganz alleine entstehen. Es war lustig zuzusehen, wie meine Hand etwas zeichnete, von dem ich nicht wusste was es werden sollte.
Allmählich fügten sich die einzelnen Linien zusammen. Aus ihnen entstanden Buchstaben. Ein R. Es war mit einer gleichen Perfektion gezeichnet, wie sie auch der Mond ausmachte. Als nächstes folgte ein U. Gespannt sah ich mir selbst beim zeichnen zu. Ich war neugierig welche Botschaft sich daraus ergeben würde. Würde es mein tiefster, innerer Wunsch sein? Von dem ich selbst noch nicht wusste? Würde es eine Offenbarung sein? Über mich? Über mein Leben? Meine Hand zauberte nur noch einen letzten Buchstaben. Ein N. Ich starrte es eine Weile an und vergaß, dass sich dahinter eine Bedeutung befinden musste. Doch als ich anfing das Wort zu lesen, verschwand die Leichtigkeit dieser Nacht. Run. Das war keine Offenbarung, das war kein innerer Wunsch. Nein, das war eine Warnung. Ich ließ den Bleistift fallen und hörte, wie er einen Moment später zu Boden fiel und die Stille störte.
Dann kam ich der Warnung nach. Ich rannte. Den Blick noch ein Mal auf das Fenster in meinem Zimmer gerichtet. Der Mond stand immer noch hoch am Himmel, wunderschön wie zuvor. Aber da, ganz hinten, sah ich eine Wolke. Keine leichte, kleine, schwerelose.... nein, es war eine dunkle, finstere, unheilverkündende Wolke. Ich stieß meine Tür auf. Ich musste hier weg. Weg von meinem Zimmer! Aber wohin?
Lian, schoss es mir durch den Kopf. Er würde wissen was zu tun war. Ich trat auf den langen Flur. Er war finster, dunkel, erdrückend und ich konnte mich nicht erinnern ihn jemals bei Dunkelheit alleine betreten zu haben. Er kam mir von hier länger vor, als sonst, unendlich lang. Aber ich rannte trotzdem los. Auf das Fenster zu, das sich am anderen Ende des Flurs befand. Ich starrte es an, ich rannte ohne irgendwo anders hinzusehen. Nur dieses Fenster und den Mond dahinter, hatte ich im Blick. Und die dunkle Wolke, die schnell und heftig auf ihn zukommen wollte, die sich über ihn legen und ihm sein Licht nehmen wollte.
Der Boden unter meinen Füßen geriet ins wanken. Meine Schritte wurden wage, ich wurde wackelig und das Fenster schien sich immer mehr von mir zu entfernen. Aber ich rannte weiter und begann mich zu fragen was mein Ziel war. Konnte ich den Mond wirklich vor dieser Wolke schützen? Wahrscheinlich nicht. Aber war diese Wolke vielleicht eine Ankündigung? Ging es hier nicht um den Mond, sondern doch um mich? Und dass ich mich in Sicherheit bringen musste? Für einen Moment hatte ich vollkommen aus den Augen verloren, dass ich es war, die in Gefahr war und nicht der Mond.
Mir wurde heiß und langsam legte sich die Gewissheit über mich, dass ich es nicht rechtzeitig schaffen würde. Die Wolke war nun nur noch wenige Meter vom Mond entfernt. Meine Zeit lief ab und der Weg zu Lian wurde unerreichbar. Mein Atem ging schnell, immer schneller und ich hatte das Gefühl bei jedem Atemzug immer weniger Luft in meine Lungen zu bekommen. Ich begann nach Luft zu schnappen, ich spürte wie mir schwindelig wurde, wie der Boden unter meinen Füßen immer mehr zu schwanken begann. Meine Sicht wurde schummrig, schon bald erkannte ich nur noch Umrisse, die immer schwächer wurden und die ich plötzlich nicht mehr zuordnen konnte. Was passierte hier? Wer holte mich hier ein?
Und bevor ich mir eine Antwort auf diese Fragen überlegen konnte, schob sich die dunkle Wolke vor den strahlenden Mond und nahm ihm sein Licht. Ich blieb stehen, denn ich wusste, dass ich verloren hatte. Der Boden hörte auf zu schwanken, der Schwindel verschwand und langsam wurden die Bilder wieder klar. Grüne, trübe Augen starrten mir direkt in die Seele. Ich hielt die Luft an, als sich ihre unheimliche Fratze vor mein Gesicht schob. Die trief nassen, dunklen Haare fielen ihr ins Gesicht, während sie mir mit dem blassen Gesicht immer näher kam.
Ich wartete auf ihr breites, verzerrtes, unheimliches Lächeln. Doch das zeigte sie mir dieses Mal nicht. Stattdessen presste sie ihre Hand heftig auf meinen Mund und übte einen so schweren Druck aus, dass ich mehrere Schritte nach hinten stolperte. Mein Rücken prallte unsanft gegen die Wand des Flurs.
Ich keuchte unter dem Druck ihrer Hand auf, nahm einen tiefen Atemzug und kniff die Augen zusammen. Ihre Hände wurden warm, fühlten sich plötzlich noch stärker an und dann spürte ich, wie sie mir mit ihrem Körper näher kam. Ich merkte den warmen Atem an meinem Gesicht und sie jagte mir eine so große Angst damit ein, dass ich die Augen nicht mehr verschließen konnte. Ich musste wissen was sie da tat.
Als ich die Augen öffnete, starten mir andere Augen entgegen. Es war das gleiche Grün, aber sie gehörten nicht dem Mädchen. Mir starrten weit aufgerissene, drohende, giftgrüne Augen entgegen. Und in diesem Moment verstand ich es. Das Mädchen war nicht die Gefahr, sie war nur ihr Vorbote gewesen. Vor mir stand die Gefahr. Meine größte Gefahr, die noch schlimmer und erschreckender war, als die dunkle, schwere Wolke, die das Licht des Mondes gejagt hatte.
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Magie oder Schicksal? (3.Teil)
Spiritual1. Teil: Zufall ode Magie? Sam hat den Sprung ins Ungewisse gewagt. Alleingelassen macht sie sich auf den Weg zum Schwarzen Orden. Doch ist der Schwarze Orden das Richtige für sie? Wird sie Andere von den bösen Machenschaften Janine's überzeugen und...