58. Kapitel - Neumond

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Der Weg durch den Wald kam mir dunkler vor als sonst. Wälder im Allgemeinen waren dunkel, bei Nacht umso mehr. Doch heute war es so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sah. Mir erging es jedenfalls so. Während Lian problemlos dem Trampelpfad folgte, stolperte ich fast über jede Unebenheit und hatte Mühe nicht zu Boden zu fallen. Ich war froh, als er bei der Hälfte des Weges nach meiner Hand griff und mir damit etwas Sicherheit gab.

Es war unheimlich still hier draußen. Wenn wir keinen Fuß vor den anderen setzen, hörte man nichts. Keine Tiere, keine Stimmen, keine Geräusche. Es war vollkommen still. Nur wenn wir uns vorwärts bewegten, hörte man unsere Schritte auf dem trockenen Boden und das Knacken kleiner Zweige unter den Schuhen.

Ich mochte die Ruhe hier draußen nicht. Es war zu ruhig. Mir war das Schweigen zwischen Lian und mir nicht unangenehm, es waren mehr meine Gedanken, die in dieser Stille lauter waren als sonst. In meinem Kopf herrschte ein Durcheinander und ich wusste nicht wo ich anfangen sollte. Wen sollte ich für das Ritual anlügen? Und was sollte hinter dieser Lüge stecken? Wie wollte Michelle Jayden dazubekommen ihr zu vertrauen? Der einzigen Person, der er vertraute, war Janine und gegen die wollten wir ihn doch ausspielen. Wie würde die Reinigung im Neumondlicht stattfinden? Müssten wir uns beeilen, weil Janines Leute uns möglicherweise beobachten könnten? Würde es vielleicht sogar gefährlich für uns werden? Was bedeutete Lians Gesichtsausdruck? Seit Tagen zeichnete sich in seinem Gesicht immer wieder eine Miene ab, die ich nicht richtig einzuordnen wusste. Kurz bevor wir den finstern Wald betreten hatten, hatte er diesen Gesichtsausdruck schon wieder gehabt. Was steckte dahinter? Hatte das etwas mit seinen Eltern zu tun? Was war mit ihnen passiert?

Seitdem er mir davon erzählt hatte, konnte ich kaum an etwas anderes denken. Die Frage ließ mich einfach nicht los und ich überlegte ständig, wie ich ihn danach fragen könnte. Aber ich konnte ihn nicht danach fragen, er wollte einfach nicht darüber reden. Und das war okay, das sollte es zumindest sein. Trotzdem fühlte ich einen leichten Stich in meiner Brust, wenn ich daran dachte. Dass er mir gegenüber so verschwiegen war, tat mir weh. Ich war es doch auch nicht. Wenn wir auf tiefere Themen in meinem Leben stoßen würden, würde ich ihm doch auch davon erzählen. Vielleicht nicht gleich mit jedem Detail, aber ich würde irgendwie darüber reden, besonders wenn ich merkte, dass es ihm wirklich wichtig war... andererseits... meine Eltern waren nicht gestorben. Wahrscheinlich konnte man das nicht vergleichen.

Ein Elternteil sterben zu sehen, war schon hart, aber dann gleich Zwei? Ich konnte mir nicht vorstellen wie das für ihn gewesen sein musste und wie es für ihn immer noch war. Deshalb wurde mein Bedürfnis ihn wieder und wieder danach zu fragen auch immer größer. Ich wusste ja nichts über diese ganze Sache. Waren sie schon kurz nach seiner Geburt gestorben und hatte er sie dann dementsprechend gar nicht kennenlernen können, dann wäre es doch eine ganz andere Art der Trauer, als wären sie erst vor kurzem oder einem Jahr oder Zweien gestorben. Und dann war da noch die Frage wie sie gestorben waren. Durch Eigenverschulden? Hatte sie jemand umgebracht? War es ein Unfall gewesen? Waren sie krank geworden? Es gab so viele Möglichkeiten...

„Bist du nervös?", riss mich Lian aus den Gedanken. Verwirrt sah ich ihn an. In der Dunkelheit konnte ich seine Gesichtszüge nur erahnen. Trotzdem ging es nicht an mir vorbei, dass er immer noch diesen merkwürdigen Gesichtsausdruck hatte, den ich nicht richtig einzuordnen wusste. Seitdem er mir gesagt hatte, dass seine Eltern nicht mehr lebten, hatte er diesen Gesichtsausdruck immer öfter. Manchmal kam es mir so vor, als bereute er es mir davon erzählt zu haben. Und dann fühlte ich mich schlecht, weil ich dachte, dass es meine Schuld war. Er war in den letzten Tagen durchaus so fürsorglich gewesen, wie sonst auch. Er hatte viel gelächelt und im Allgemeinen schien er trotz allem gut gelaunt zu sein. Doch er verfiel immer wieder, und wenn es nur für Sekunden war, in eine so seltsame Stimmung, dass ich das Gefühl hatte er wünschte sich Abstand von mir zu bekommen. Er war plötzlich distanziert, in sich zurückgezogen und seltsam. Überhaupt nicht so wie ich ihn kannte und es machte mir Sorgen, dass ich das in ihm ausgelöst zu haben schien. Noch mehr Angst machte es mir jedoch, dass er nicht darüber reden wollte.

Magie oder Schicksal? (3.Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt