72. Kapitel - Hinweg

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Angespannt biss ich die Zähne fest zusammen, während ich Lian von hinten beobachtete. Er hatte den Kopf zu Boden gesenkt und lief schweigsam vor mir her. Er fühlte gar nichts. Dieser Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie sollte man gar nichts fühlen? Man fühlte doch immer etwas, nicht immer Wut oder Trauer oder Glück, manchmal fühlte man sich einfach entspannt, müde oder kaputt. Aber egal wann und in welcher Situation, man fühlte doch immer irgendetwas. Ich verstand es einfach nicht und das machte mir große Sorgen.

So sehr ich auch Angst vor dem hatte, was er über uns nun dachte und was er von mir hielt, ich machte mir trotz dessen viel mehr Gedanken um ihn. Ich machte mir Sorgen um ihn. Wenn jemand sagte, dass er gar nichts fühlte, dann klang das nicht gut. Das klang überhaupt nicht so, wie es sein sollte. Kurz hatte ich Angst gehabt, dass er mir versucht hatte zu sagen, dass er nichts mehr für mich fühlte. Aber das war es nicht, das hätte er mir genau so gesagt. Nein, Lian hatte gesagt, dass er gar nichts fühlte. Nicht auf mich bezogen, sondern auf alles.

Ich wünschte er hätte mir mehr erzählt. Aber Lian war direkt gegangen, nachdem er mir dieses Geständnis gemacht hatte. Natürlich war ich ihm nachgelaufen, ich hatte ihn tausend Mal darum gebeten mit mir zu reden und das zu klären. Aber er hatte sich nicht darauf eingelassen. Alles was er dazu noch gesagt hatte war, dass er nicht darüber reden könne, dass wir Wichtigeres zu tun hätten und dass er Zeit für sich alleine bräuchte. Alles Antworten, die ich verstehen konnte, die für mich jedoch kaum auszuhalten waren. Ich wollte ihm helfen, ich wollte sicher gehen, dass es ihm gut ging und ich wollte es geklärt haben. Aber Lian war nicht umzustimmen gewesen und als ich nicht locker gelassen hatte, war er einfach für ein paar Stunden verschwunden.

Ich hatte mir riesige Sorgen um ihn gemacht und als er zurück kam und ich ihn völlig aufgelöst gefragt hatte, wo er gewesen war, hatte er nur gleichgültig geantwortet, ein paar Runden um die Siedlung gedreht zu haben.

Ich wusste nicht so recht wohin mit meinen Gefühlen und mit mir selbst. Mein schlechtes Gewissen fraß mich auf und ich war krank vor Sorge um ihn. Während ich mich grausam fühlte, tat Lian so, als wäre nie etwas gewesen. Er redete ganz normal mit mir und den Anderen. Der einzige Unterschied war, dass er mich wie die Anderen behandelte. Er berührte mich nicht, er gab mir keinen Kuss, keine Umarmung, nicht mal mehr ein persönliches Wort. Und das tat weh, mehr als ich geglaubt hatte.

Als wir uns in Gedanken getroffen hatten, um den Plan für heute Abend genauestens durchzugehen, hatte er ganz konzentriert gewirkt. Als hätte er einfach alle Probleme und Gefühle beiseite geschoben und würde sich nur auf das Wichtigste konzentrieren, nur auf Janine und unsere Mission. Ich wünschte ich könnte das auch, doch in meinem Kopf ging es nur um ihn und das was passiert war.

„Du kannst dich konzentrieren heute oder?" Ich zuckte leicht zusammen, als Lian mich das fragte. Ich fühlte mich ertappt, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Ja, ich hoffe", entgegnete ich knapp. Ich wollte, dass er mir irgendetwas Aufmunterndes entgegenbrachte. Ich wollte irgendein Gefühl in seiner Stimme hören oder in seiner Mimik sehen. Ich wollte wissen, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging und, dass er mich nicht schon komplett abgeschrieben hatte. Doch Lian sah leer aus. Seine Augen waren leer, seine Mimik, selbst seine Stimme klang frei von jeglichem Gefühl. Mein schlechtes Gewissen wurde immer schlimmer. Ich hatte das alles zu verantworten. Ganz allein wegen mir, ging es ihm jetzt so beschissen und ganz allein wegen mir, war es für uns noch schwerer den Plan gegen Janine umzusetzen.

„Du hoffst? Du weißt, dass wir nur eine Chance haben." Ich blickte ihm die Augen und nickte.

„Ja. Wirst du nachher, wenn das alles vorbei ist, mit mir reden? Über alles?"

Magie oder Schicksal? (3.Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt