Kapitel 22 / Ich habe ihn nicht umgebracht

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Wir fuhren eine halbe Stunde, bis wir in einem Vorort Chicagos ankamen. Die Fahrt über war es ruhig, Kailyns Gesicht war angespannt und ich sah, dass er das was er da tat, nicht gerne tat.

Wir parkten auf einem verlassenen Parkplatz, vor einem alten, halb abgebrannten Wohnhaus. Ich sah mich um und mir wurde immer mehr unwohl.

Die Gegend sah gefährlich aus, alle Häuser hatten Gitterstäbe vor den Fenstern und überall verdeckten Vorhänge die Sicht. Die Häuser sahen alt und heruntergekommen aus.

„Sky." Hauchte Kailyn und stellte sich vor mich. „Was du jetzt sehen und hören wirst, hat noch niemand vor dir gesehen. Und es wird auch niemand nach dir sehen. Ich mache das nur, damit du mich und Luke besser verstehen kannst und dich vielleicht umstimmen lässt." Er sah mir direkt in die Augen.

Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken und mir wurde mulmig zumute. „Egal, was damals passiert ist, du sollst wissen, dass es Vergangenheit ist und ich nicht mehr so bin. Das war ein anderer Kailyn... du wirst nachher anders über mich denken, das ist mir klar. Aber bitte vergiss nicht, dass ich wirklich nicht mehr so bin. Und bitte hass mich nicht."

„Jaja, ich hab's kapiert. Also?" ich sah ihn erwartungsvoll an. „Komm mit." Sagte er nach kurzer Überlegung. Ich folgte ihm in das verlassene Wohnhaus, er hatte einen Schlüssel.

Sobald wir das Haus betraten, stieg mir ein muffeliger Geruch in die Nase. Zigaretten und stickige Luft. Wir gingen durch einen langen Flur in ein Zimmer, das wohl mal ein Wohnzimmer gewesen war. Es war dunkel, durch die schweren grauen Vorhänge drang nicht viel Licht ins Zimmer.

Am Boden lagen Zigarettenstummel, Plastiktüten und viel Staub. Es sah aus, als wäre schon seit Jahren niemand mehr hier gewesen, mein Magen drehte sich um und ich bekam es mit der Angst zu tun.

„Wo sind wir hier?" fragte ich mit zittriger Stimme und stellte mich näher an Kailyn ran. Er sah über die Schulter auf mich zurück, biss sich auf die Lippe und begann, zu erzählen.

„Luke und ich haben damals gedealt. Es war eine harte Zeit und wir sind durch falsche Freunde irgendwie in eine Dealerbande gekommen. Wir haben nachts Drogen verkauft und damit viel Geld gemacht. Das hier war unser Quartier, hier wurde alles abgewickelt."

Kailyn schluckte und sah sich selbst um. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht hören wollte, was noch kam. Natürlich war mir klar gewesen, dass Kailyn nicht einer der Bravsten war, aber dass er gedealt hatte, hätte ich nicht erwartet.

„Wir haben das ungefähr ein halbes Jahr gemacht. Irgendwann ist einer unserer Stammgäste an einem Drogencocktail gestorben, den wir ihm verkauft hatten, und wir konnten es nicht mehr. Zu sehen, dass Leute wegen uns starben, konnten wir uns nicht verzeihen. Und so haben wir versucht, auszusteigen."

"Es war wie ein Teufelskreis, der Kopf der Bande meinte, wir dürften nur aussteigen, wenn wir ihnen das ganze Geld zurückzahlten, das wir damit gemacht hatten, und einen Verschwiegenheitsvertrag unterschreiben."

Es fiel ihm schwer, das alles zu erzählen, also fuhr ich mit meiner Hand ermutigend über seinen Arm, um ihm zu zeigen, dass es okay war. „Wir konnten nicht zehntausende Dollar zurückzahlen, also haben wir lange verhandelt und haben einen neuen Deal gemacht. Ein früherer Lieferant, der unseren Boss anzeigen wollte... unser Boss wollte ihn aus dem Weg haben." Er stockte.

„Ihr habt ihn...?" ich sah Kailyn erschrocken an und ging einen Schritt zurück. Der Gedanke, dass Kailyn jemanden umgebracht hatte, ließ meine Knie zu Pudding werden und meine Unterlippe zuckte.

Ich sah ihn mit großen, ungläubigen Augen an. Vorsichtig griff er nach meiner Hand, die ich aber sofort wegzog. „Ich habe ihn nicht umgebracht."

„Was dann?" meine Stimme war zittrig, ich hatte Angst vor der Antwort. Kailyn kam einen Schritt näher, sah mir genau in die Augen, sprach dann weiter.

„Ich habe eine Schlägerei mit dem Typ angezettelt. Natürlich war er stärker und größer und irgendwann bin ich am Boden gelegen, er hat mir die Kehle zugehalten und ich konnte nicht mehr atmen, sodass ich fast gestorben wäre." Er setzte kurz aus, um meine Reaktion abzuwarten.

Sofort drehte sich mein Magen um, bei dem Gedanken, dass er das alles durchgemacht hatte und doch nie jemandem davon erzählt hatte. Ich sah ihn mit Tränen in den Augen an, denn ich sah vor meinem inneren Auge, wie er dort lag.

„Hey... alles ist gut." Lächelte er leicht und nahm meine Hände in seine. „Was... was ist dann passiert?" fragte ich und schluckte die Tränen runter.

„Luke hat eingegriffen, ihn von mir runtergezogen und so lang auf ihn eingeschlagen und ihn getreten, bis er tot war. Die Polizei ist gekommen und da sie mich gesehen haben, konnten wir sagen, dass es Notwehr war, weil er mich fast umgebracht hätte. Ich meine, es war ja nicht mal wirklich gelogen." Kailyn sah auf den Boden.

Luke hatte also wirklich jemanden umgebracht. Ich gab es nicht gerne zu, aber irgendwo verstand ich ihn. Die beiden waren eben in die Drogenszene hineingerutscht, man kam da schneller rein, als man denken konnte.

Und dann kam man nicht mehr raus. Der einzige Weg für die beiden war, den Typ umzubringen. Natürlich war das keine Entschuldigung, aber ich hätte an ihrer Stelle wohl nicht viel anders gehandelt.

Als ich nichts sagte, sondern Kailyn einfach nur anstarrte, räusperte er sich. „Wenn ich es rückgängig machen könnte... ich würde es tun. Aber es war eben der einzige Weg und... ich werde mir das nie verzeihen können." Murmelte er dann.

„Ich hätte es auch getan." Flüsterte ich und sah zu Boden. Mein Stiefbruder sah mich überrascht an, damit hatte er wohl nicht gerechnet.

„Niemand weiß davon. Nicht mal Carter oder Ronny. Ich wollte nur, dass du weißt, wieso ich nicht will, dass du Luke anzeigst. Ja, er ist aggressiv und macht Fehler, aber wenn er sich nur noch eine Sache zu Schulden kommen lässt, landet er im Knast. Klar, er hätte es verdient. Alleine, weil er dich geschlagen hat. Aber er hat mir damals das Leben gerettet..." erklärte Kailyn und fuhr sich durch die Haare.

„Ich werde nicht zur Polizei gehen." Versprach ich dann. Kailyn sah mich beinahe überrascht an. „Aber du musst mir versprechen, dass sowas nie wieder passiert. Ich habe Angst, ihm zu begegnen, Kailyn." Gab ich zu.

„Er wird dich nie wieder anfassen, das verspreche ich dir." Flüsterte Kailyn und kam mir näher. Ich hatte das seltsame Verlangen, ihn küssen zu wollen. Dass er auf meine Lippen starrte, machte es nicht leichter.

Gott sei Dank kam ich wieder zu Verstand, erinnerte mich, was er mir gerade erzählt hatte und dass wir in einem gruseligen Haus standen. So wich ich zurück. „Können wir gehen?" fragte ich leise. Kailyn nickte und ich folgte ihm wieder zurück in den Flur.

Er bleib vor einer angelehnten Tür stehen und runzelte die Stirn. „Jemand war hier." Flüsterte er gefährlich leise. Ich bekam es wirklich mit der Angst zu tun, die pure Stille in diesem Haus und dass es beinahe stockfinster war, half nicht wirklich.

„K-Können wir bitte gehen?" hauchte ich mit zittriger Stimme, als Kailyn die Tür vorsichtig aufstieß. Er drehte sich zu mir um, sein Gebiss spannte sich an und er nahm meine Hand und verschränkte unsere Finger.

„Gleich." Flüsterte er, zog mich zu sich, sodass ich neben ihm stand und ging in das Zimmer.

Ich spürte, wie ich vor Angst zu zittern begann. Ich hatte das Gefühl, es würde gleich jemand aus der Wand springen und auf uns losgehen.

Mit der linken Hand hielt ich Kailyns rechte, mit meiner rechten krallte ich mich an seinem Arm fest, da ich nicht mal sehen konnte, wo ich hinlief.

Kailyn sah sich in dem Raum um, welcher früher mal die Küche war, und runzelte die Stirn noch mehr. Als er bemerkte, wie sehr ich zitterte, drückte er meine Hand noch fester.

„Kailyn O'Neill. Was für eine Ehre, dich zu sehen." hallte da eine Stimme hinter uns. Ich zuckte vor Schreck zusammen, ehe wir uns beide in Zeitlupe umdrehten.

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Was denkt ihr über den Vorfall damals? Hättet ihr wie Kailyn und Luke gehandelt?

Bis zum nächsten Mal! xx

Verlass mich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt