Kapitel 29 / Mum

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„Damals nach der Vergewaltigung und der Abtreibung... Isaac hat immer wieder versucht, sich zu entschuldigen. Er wollte wieder mit mir zusammenkommen, aber ich hab immer abgelehnt. Wie gesagt, er war ständig high und ziemlich aggressiv... wenn er etwas wollte, bekam er es, egal wie."

"Als ich ihm also immer wieder Körbe gegeben hab, hat er es auf seine Weise geklärt. Er hat mich eines Abends angerufen und gemeint, wenn ich meine Mutter je wiedersehen wolle, müsse ich wieder mit ihm zusammen sein."

"Meine Mum war zu der Zeit auf einer Geschäftsreise in Philadelphia. Kurz über lang habe ich sie angerufen und gefragt, ob es ihr gut geht. Als sie ja gesagt hat und mir versichert hat, dass sie im Hotel ist, war ich mir sicher, dass Isaac nur blufft und hab ihm wieder einen Korb gegeben." Ich schluckte.

Kailyn sah mich mit großen Augen an. „Hat er sie... umgebracht?" fragte er und rutschte wieder zu mir, sodass er mich umarmen konnte, falls es nötig wäre.

„Meine Mum ist nicht tot, Kailyn."

Wieder sah er mich entgeistert an, ich hatte aber das Gefühl, dass ich offen mit ihm reden konnte. Ich ignorierte also die Tränen, die über meine Wangen kullerten und atmete tief durch.

„Am nächsten Tag hat er sie vor dem Hotel aufgeschnappt, in ein gefaketes Taxi gezogen und sie entführt. Er hat mir tagelang nichts davon gesagt, Dad und ich dachten, sie wäre auf der Geschäftsreise."

"Als sie aber nicht nach Hause gekommen ist, wie es ausgemacht war, und ihr Handy tagelang ausgeschaltet war, hab ich Verdacht geschöpft. Ich hab ihn angerufen und er meinte, er hätte mich gewarnt."

"Er hat sie erst monatelang in irgendeinem Keller in Louisiana versteckt, ich hab versucht, herauszufinden, wo sie sind..." meine Stimme brach und die Tränen überkamen mich.

Kailyn zog mich auf seinen Schoß und drückte mich ganz fest an seine Brust, sodass ich mich sofort sicher fühlte.

Jeder einzelne meiner Knochen schien wehzutun, ich konnte beinahe nicht weiterreden. Aber ich musste, er musste es erfahren.

„Ich hab alles versucht, was ich als Einzelperson tun konnte, aber ich hab sie nicht gefunden. Mein Dad ist zur Polizei gegangen, aber Isaac war immer schon ein guter Krimineller und so hatten sie auch keine Spur. Ich sagte aus, dass Louisiana einer ihrer Lieblingsstaaten war und sie dort suchen sollten, aber sie fanden nichts."

"Nach acht Monaten hat Isaac mich wieder angerufen und erzählt, dass er ihr eine neue Identität besorgt und ein Haus gekauft hat. Sie wohnt in einer kleinen Stadt in Louisiana, unter einem neuen Namen, in einem kleinen Haus. Sie arbeitet in einer Bar und hat wieder geheiratet." Schluchzte ich.

Kailyns verwirrter Blick zeigte, dass er nicht verstand, wieso sie nicht zurückgekommen war, zu Dad und mir. „Es hat ihr dort gefallen. Sie ruft mich einmal im Jahr an und erzählt mir, wie es ihr geht. Es hat ihr dort gefallen und nach all der Scheiße konnte sie nicht wieder zurück."

"Sie sagte, sie hätte es nicht geschafft. Sie hätte nicht wieder in ihr altes Leben zurückgekonnt. Sie hat sich dort ihr neues Leben aufgebaut und... für Dad und mich wurde sie zwei Monate nach dem Verschwinden als tot erklärt, es gab eine Beerdigung und jeder hat Abschied genommen." Erklärte ich mit brüchiger Stimme.

„D-Du hast deinem Dad nie was davon erzählt?" fragte Kailyn und drückte mich noch enger an sich. „Nein, er denkt, sie ist in Philadelphia von einer Brücke gesprungen, so wie die Cops es angenommen hatten. Einer von Isaacs Freunden hat eine Aussage gemacht, dass er sie dort gesehen hätte, in der Nacht vor ihrem Verschwinden."

"Weißt du, Dad hat sie die ersten zwei Monate so sehr vermisst. Aber hätte ich ihm gesagt, dass sie irgendwo in Louisiana ist, wäre er losgefahren und hätte sie gesucht. Und das wäre zu gefährlich gewesen. Isaac hätte ihn erwischt und..."

"Jedenfalls, als es dann das Begräbnis gab, hatte er Abschied genommen. Er hatte sich damit abgefunden, dass sie gehen wollte und es ging ihm immer besser. Als Isaac mir sagte, dass sie noch lebt und er sie freigelassen hat, da kannte Dad deine Mum schon. Er war wieder glücklich und ich konnte das nicht zerstören, indem ich ihn zu meiner Mum fahren ließ. Für ihn ist sie tot und vielleicht ist es auch besser so."

Ich hatte das Gefühl, wie wenn mir ein Fels vom Herzen gefallen wäre. Es war so ein befreiendes Gefühl, auch wenn alles hochkam. All die Emotionen, die ich so lange nie zugelassen hatte.

Kailyn sagte nichts, er hielt mich einfach fest. Mein Kopf war in seiner Brust vergraben, seine Arme lagen um meine Taille. Und so saßen wir einfach da. Mein Schluchzen ließ irgendwann nach. Ich fühlte mich sicher. Ich fühlte mich gewollt. Nach so langer Zeit hatte ich endlich wieder mal das Gefühl, wirklich gewollt zu sein.

„Du musst mich für einen Unmenschen halten." Meinte ich dann und sah Kailyn mit meinen verheulten Augen an. Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen, dann nahm er mein Gesicht in seine Hände.

„Ich hätte es nicht anders gemacht. Du hast deinen Dad glücklich sein lassen. Weil du ihn so sehr liebst. Du hast ihn nicht vor tausende Fragen gestellt, wieso das passiert war und warum sie nicht zurückkommen wollte. Du hast ihn nicht zu ihr fahren lassen, nur um zu sehen, dass es ihr ohne ihn gut geht. Das war selbstlos, Sky. Du hast ihn davor bewahrt, so sehr verletzt zu werden. Und ich kann mir nicht mal im Traum vorstellen, was du die letzten Jahre durchmachen musstest. Und ich bewundere dich. Weil du so viel für die Menschen tust, die du liebst."

Er drückte mich wieder an sich und ich lächelte. Obwohl ich gerade die schlimmste Geschichte erzählt hatte, die Geschichte, die mir so viel Leben geraubt hatte, die mich monatelang nicht schlafen gelassen hatte. Und trotzdem brachte er mich zum Lächeln. Ich hatte die Sache noch nie so gesehen.

Nach einer gefühlten Stunde, die er nur beruhigend gesummt hatte und ich seinem Brustkorb beim Vibrieren zugehört hatte, war ich bereit, nach Hause zu fahren. Meine Tränen waren getrocknet und meine Augen wieder relativ abgeschwollen. „Bist du okay?" fragte er voller Besorgnis, ich nickte. Dann rutschte ich zurück auf meinen Sitz und wir fuhren nach Hause.

Erica und Dad sahen uns misstrauisch an, weil wir fast zwei Stunden zu spät waren. „Ich hatte noch was mit Liz zu bereden..." begann ich, zu erklären. „Und dann standen wir im Stau. Also haben wir uns gedacht, wir essen unterwegs. Wir haben uns schnell Pizza geholt." Log Kailyn noch.

„Gut, also habt ihr keinen Hunger?" fragte Erica und sah uns ein wenig enttäuscht an. Sie liebte es zu kochen und vor allem, für uns zu kochen. Wir schüttelten die Köpfe und ich machte mich gleich auf den Weg nach oben in mein Zimmer.

Ich legte mich ins Bett, kuschelte mich so in meine Decke, dass nur noch mein Haaransatz rausschaute und ließ alle Erinnerungen an Mum zu.

Wie sie mir als Kind immer die Haare frisiert hatte, wie sie mir damals gleich gesagt hatte, dass Isaac nichts für mich ist. Wie sie sich immer heimlich mit mir rausgeschlichen hatte und wir shoppen gegangen waren, während Dad schlief, da er meinte, wir gingen zu viel shoppen.

Die Tränen liefen unaufhörlich über meine Wangen, ich hasste mich dafür. Ich hasste mich dafür, dass ich es zuließ. Dass ich nicht, wie das ganze Jahr zuvor, einfach die Tränen runterschluckte und alle Gedanken an sie verbannte.

Dass ich das arme kleine schwache Mädchen war, die ihre Mum verloren hatte. Denn dieses arme kleine schwache Mädchen wollte ich nie wieder sein. Die mitleidigen Gesichtsausdrücke, die mir die Leute auf der Beerdigung gezeigt hatten, wollte ich nie wieder sehen.

Und komischer Weise sah Kailyn mich nicht so an. Er hatte kein Mitleid. Er hatte mich mit einem verständnisvollen Blick angesehen. Mit einem Du hast das richtige getan – Blick. Und vielleicht war es das, was mich nun die kommenden Tränen zurückhalten ließ.

Dass ich wusste, ich war stark. Jeder konnte sich Fehlschläge erlauben, so auch ich. Also schluckte ich die Tränen runter, ging zu meinem Spiegel und wischte mir die Flüssigkeit von den Wangen. Ich sah mich im Spiegel an und sagte mir: Du hast das Richtige getan. Du bist stärker als all die Sachen, die dich schwach gemacht haben.

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Na, hättet ihr das erwartet?

Sorry, falls die ganze Geschichte ein wenig unrealtistisch klingt, aber das ist eben ein Buch und da muss nicht immer alles realitisch sein.

Bis zum nächsten Mal! xx

Verlass mich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt