Kapitel 92

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Kopfschüttelnd lief ich die drei Stufen nach oben und wollte an die Tür klopfen, aber kaum berührte ich die Holztür, ging sie mit einem quietschen auf. Verwirrt runzelte ich meine Stirn. Gut, jetzt bekam sogar ich etwas Angst. Zögernd betrat ich den Flur. Überall lagen Holzteile auf dem Boden und es wimmelte nur so von Staub. Wie konnte er hier leben?

Erschrocken wich ich einen Schritt nach hinten als vor meinen Füssen eine Ratte den Flur überquerte. Gott, wie eklig war das denn. Ich atmete einmal tief durch und lief den Flur nach hinten. "Chloe?" das war Cameron! Lächelnd lief ich durch die offene Tür auf der linken Seite. Mein Lächeln erstarb aber als ich Cameron sah.

"Verschwinde!"

Mit geweiteten Augen sah ich zu Cameron. Er sass auf einem Stuhl und seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt. Sein Auge, sowie sein Kiefer waren blau angeschwollen und er hatte auf seinem gesamten Oberkörper kleine Einschnitte. Was ging hier vor sich und wer hatte ihm das angetan?!

"Chloe, verschwinde von hier!" rief Cameron wieder. Seine Worte ignorierend, rannte ich zu ihm und kniete mich hinter ihm auf den Boden. "Chloe verdammt, jetzt-" "Wer war das?" unterbrach ich ihn. Ohne mein Umfeld gross zu beachten, löste ich das Seil um seine Handgelenke. "Das war-" "Ich!" fast hatte ich die Fesseln gelöst als ich ihn hörte.

Augenblicklich hielt ich in meiner Bewegung inne und sah an Cameron vorbei. Mein ganzer Körper spannte sich an als ich Anthony im Türrahmen stehen sah. Grinsend sah er mich an und zielte mit seiner Waffe auf mich. "Steh auf!" ich wusste ganz genau, dass ich das hier nicht überleben würde. Anthony wollte das ich um mein Leben rannte und ich war mir mehr als sicher, dass heute dieser Tag sein würde, aber ich würde ganz sicher nicht zulassen, dass er Cameron noch mehr verletzte.

So unauffällig ich konnte, zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wählte die Eins, bevor ich es Cameron in die Hand drückte und langsam aufstand. "Du hast mir die Nachricht geschickt." sagte ich an Anthony gewandt. Stolz grinsend nickte er. "Natürlich. Es war ein leichtes deinen Bruder aufzuspüren und hierhin zu bringen. Ich musste nur noch warten bis du wieder gesund bist und tadaa..." lachend streckte er seine Arme aus. "Hier bist du. Ich wusste ganz genau wie viel dir Cameron bedeutet und das du ohne zu zögern kommen würdest. Wie hast du den Cop abgehängt?"

Gespannt sah er mich an, während ich einfach nur wütend wurde. Anthony hatte Cameron schon länger hier gefangen gehalten und weiss ich nicht was mit ihm gemacht. "Strassenfest." brachte ich zwischen zusammengepressten Lippen hervor. "Genial. Okay, da wir das ja jetzt geklärt haben...bist du bereit?" langsam hob er wieder seine Waffe und zielte auf mich. "Ich werde nicht vor dir davon laufen." sagte ich angespannt. "Ach, ist das so?" "Ja!" spöttisch hob Anthony eine Augenbraue und entsicherte die Waffe.

"Na dann. Es macht zwar halb so viel spass, aber dann werde ich dich eben gleich erschiessen." gleichgültig zuckte er mit seinen Schultern. Aus meinem Augenwinkel sah ich, wie Cameron seine Arme bewegte, so als ob er etwas von sich abschütteln wollte. Bevor ich überhaupt hätte reagieren können, sprang er in dem Moment von dem Stuhl auf und stellte sich vor mich als Anthony auf den Abzug drückte.

Das Echo des Schusses hallte noch durch den Raum als Cameron auf den Boden sackte. Sofort liess ich mich neben ihn auf die Knie fallen und sah auf seinen Bauch. "Oh...naja, das ist auch in Ordnung." nur kurz sah ich zu Anthony, ehe ich meine Hände auf Camerons Bauch drückte. "Chloe...geh..." krächzte er. Kopfschüttelnd kniff ich meine Augen zusammen um die Tränen zurück zu halten, hatte aber keine Chance. "Geh!" als ich Cameron weiter nicht ansah, hob er seine Hand und legte sie an mein Kinn. Widerwillig liess ich meinen Kopf zur Seite drehen. "Chloe, geh!" ich konnte Cameron doch nicht einfach hier lassen. "Hilfe ist auf dem Weg." flüsterte er nun. Verwirrt runzelte ich meine Stirn, bis ich mein Handy in seiner Hand sah. Auf dem Display war ganz klar James' Name zu lesen und die Zeit, die wir schon mit ihm 'telefonierten'.

Langsam nickte ich und stand auf. "Ich komme und hole dich." sagte ich und drehte mich zu Anthony um. Dieser sah mich nur grinsend an und trat zur Seite. "Zwei Minuten Vorsprung." Sadist! Ohne ihm eines weiteren Blickes zu würdigen, ging ich an ihm vorbei und rannte aus dem Haus raus. Draussen blieb ich stehen und sah mich um. Ich hatte plötzlich keine Ahnung mehr aus welcher Richtung ich gekommen war und schlug einfach eine beliebige Richtung ein. Woran hätte ich mich hier im Wald auch orientieren sollen?

Egal wie ausweglos meine Situation auch war und wie viel Angst ich hatte, ich wusste, dass Cameron und ich bald in Sicherheit kommen würden. John konnte mein Handy orten und würde mit einem Haufen Männern hier auftauchen um Anthony endlich zur Strecke zu bringen. Die Frage war doch nur: wie lange konnte ich durchhalten.

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Stöhnend landete ich auf dem Boden und rappelte mich sofort wieder auf. Ich wusste nicht wie oft ich schon über irgendwelche Äste stolperte und auf dem Boden landete. Jedes Mal rappelte ich mich wieder auf und rannte weiter, wobei ich mittlerweile nicht mehr so schnell voran kam. Mein Bein schmerzte wieder und meine Kräfte näherten sich dem Ende. Es kam mir wie Tage vor in denen ich hier umher irrte, aber es waren wahrscheinlich nur Stunden.

"Chloe!" panisch sah ich nach hinten, aber wie so oft als mich Anthony rief, konnte ich ihn nicht sehen. Er machte sich einen Spass daraus mich zu verfolgen und offensichtlich strengte es ihn nicht so an wie mich. Verzweifelt sah ich mich um und fuhr mit den Händen durch meine Haare. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung wo in diesem verfluchten Wald ich mich befand, aber das war auch völlig egal. Ich musste durchhalten bis John und Jim mich finden würden. Im Moment sorgte ich mich aber nur um Cameron. Ich hoffte, dass er schon gefunden wurde und es ihm gut ging. Er musste es überleben!

Die Schmerzen in meinem Bein ignorierend, setzte ich meinen Weg fort. Über jeden Ast und Stein sprang ich durch den Wald, ohne überhaupt zu wissen wo mich mein Weg hinführte. Hauptsache weg von Anthony.

Als ich aber ein Knacken in meiner Nähe hörte, blieb ich abrupt stehen. Er hatte mich eingeholt. Anthony war ganz in meiner Nähe.

Panisch sah ich mich um und wollte mich hinter einem Baum verstecken, aber bevor ich überhaupt einen Schritt nach vorne machen konnte, wurde ich an meinem Arm gepackt und landete nach einem kräftigen Stoss auf dem Boden. Ein qualvoller Schrei entwich mir als ich mich mit meiner Hand falsch auf dem Boden abstützte und mein Arm laut knackte. Die Tränen schossen in meine Augen und keine Sekunde später wurde ich auf meine Füsse gezogen.

"Ach. Hat sich die kleine Chloe den Arm gebrochen?" fragte er spöttisch. Grob drückte er mich mit meinem Rücken gegen einen Baum, was mir ein Wimmern entlockte. Jetzt war es soweit. Anthony hatte mich und ich würde sterben. Er hatte das was er wollte, denn wenn er mich töten würde, hätte er seine Rache an James.

James...nie wieder würde ich ihn sehen. Hätte ich gewusst was heute noch alles passieren würde, hätte ich mich niemals mit ihm gestritten. Einen Menschen nach einem Streit zu verlieren, war das schlimmste was einem passieren konnte. Was würde ich dafür geben, ihn noch einmal zu sehen. Ich würde dafür sterben.

Erschrocken keuchte ich auf als sich ein Schmerz in meiner Wange breit machte. "Sieh mich an!" schrie Anthony. Zitternd sah ich zu ihm hoch und probierte dabei die Waffe an meiner Schläfe zu ignorieren. "Ich gebe dir eine weitere Chance. Zwei Minuten!" langsam liess er mich los, trat einen Schritt nach hinten und sah auf seine Uhr an seinem Handgelenk. Wieder musste ich mir in Erinnerung rufen, dass ich für Cameron überleben musste. Ich musste Anthony so lange wie möglich von dem Haus fernhalten.

Tief durchatmend presste ich meinen Arm an meine Brust und entfernte mich langsam von ihm. "Die Zeit läuft." sagte Anthony gelangweilt. Kurz sah ich nochmals zu ihm, ehe ich mich umdrehte und weiter rannte. Bald würde es dunkel werden und dann würde ich überhaupt nichts mehr sehen. Wie verdammt nochmal sollte ich das alles hier überhaupt überleben. Eigentlich hätte ich mich Anthony auch gleich stellen können, aber diese Befriedigung würde ich ihm sicher nicht geben.

Wenn ich sterben würde, dann garantiert nicht kampflos.

Silent girlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt