6. Kapitel

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Es war einer dieser perfekten kleinen Momente und Karina wusste, dieser Sommer in Turin hatte das Potential, sich zu etwas ganz Besonderem zu entwickeln. Die Abendsonne auf der Piazza Vittorio Veneto, die schneebedeckten piemontesischen Alpen im Hintergrund und das alles bei angenehmem Geplauder mit Freunden. Sie hatte Sylvie hier zum ersten Mal seit Moskau wieder gesehen und von Anfang an, waren ihre Gespräche so lebhaft gewesen, wie in den Nachrichten, die sie seit geraumer Zeit mehrmals am Tag hin und her schickten. Überhaupt war es, als kannten sie einander schon ewig. Es war ganz anders als noch vor einem halben Jahr in Moskau, wo Sylvie mit sehr ernstem und angespanntem Gesichtsausdruck neben ihr gesessen hatte - absolut nicht in der Laune irgendeine Unterhaltung zu führen.

Heute war sie ganz anders, nur ihre Frisur war noch die Gleiche. Anstelle des strengen dunklen Hosenanzugs trug sie nun ein schulterfreies türkisfarbenes Top und verwaschene Jeans. Sie war als Einzige der vier wirklich im Urlaub hier, und man merkte ihr an, dass sie fest entschlossen war diesen zu genießen.

"Obwohl ich für dringende Fälle den Kollegen in Kopenhagen zur Vefügung stehen soll", erklärte sie. "Wenn es darum geht eine sommerlochbedingte Zeitungsente kompetent zu kommentieren, oder ähnliche Notfälle. Nichts wofür meine persönliche Anwesenheit erforderlich sein sein sollte."

Der einzige Wermutstropfen an diesem Abend war Jitkas sauertöpfische Miene. Abgesehen davon, dass diese Programmänderung wirklich ärgerlich war und irgendwie typisch. Aber man konnte es nicht mehr ändern. Karina hatte jedenfalls keine Lust sich davon die Laune verderben zu lassen und auch Jitkas Stimmung würde sich noch bessern.

"Wie wär's mit einem Abendessen?", schlug sie vor. "Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe mittlerweile einen Bärenhunger." Die Anregung fand allgemeinen Beifall und so zahlten sie und schlenderten an den Arkaden entlang. Es dauerte nicht lange, bis sie im Gastgarten einer kleinen Osteria hängen blieben. Während sie und Sylvie sich vom Kellner piemontesische Spezialitäten und dazu passenden Wein empfehlen ließen, bemerkte sie, dass Jitka und Erik, deren italienisch über die Anmerkungen, die man in Musiknoten fand nicht hinausging, einander etwas ratlos ansahen. Woraufhin Sylvie und Karina beinahe gleichzeitig loslachten und in der Folge wurde der Inhalt der Speisekarte in einem wilden Gemisch aus englisch, tschechisch und dänisch diskutiert. Jitka lauschte fasziniert dem schnellen Wortwechsel der Geschwister in ihrer Muttersprache.

"Nuschelt ihr immer so?", fragte sie schließlich in ihrer direkten Art. "Naja, irgendwie klingt das süß." Daraufhin wurden Jitka und Karina von den beiden Dänen unter heftigem Gekicher genötigt den Namen eines dänischen Nachtischs auszusprechen, der wohl irgendwas mit roter Grütze zu tun hatte, aber nach Rotkraut mit Flöhen klang.

"Passt auf. Hier ist die Rache. Sagt mal: Strč prst skrz krk", packte Karina den Klassiker der tschechischen Zungenbrecher aus, von denen es jede Menge gab. Sie waren meist Aneinanderreihungen von vokallosen Worten, derer es in der tschechischen Sprache Unmengen gab. Die Sinnhaftigkeit der so entstandenen Sätze spielte dabei eine kleinere Rolle.

"Was ist das?", fragte Erik. "Hast du das gerade erfunden?"

"Das heißt: Streck den Finger durch den Hals."

"Ist nicht wahr!", prustete Sylvie.

"Oh doch! Frag Jiti!" Während des ausgezeichneten Essens folgten noch einige Runden ‚Na zdraví' und ‚Skål', die Gläser klirrten und nachdem alle noch ein Desert verspeist hatten, stahl sich Karina zur Theke, um klammheimlich die Rechnung zu begleichen. Es war mittlerweile dunkel geworden und als sie wieder an den Tisch zurückkam, beugte sie sich zu Sylie: "Ich könnte einen Verdauungsspaziergang vertragen, du nicht auch?"

"Unbedingt. Fragen wir doch ...", setzte sie an, aber Karina schüttelte nur den Kopf.

"Komm einfach." Jiti und Erik waren erwachsene Menschen, die nicht ständig Begleitung brauchten. Auch wenn Sylvie durchaus nicht der Meinung zu sein schien, dass ihr Bruder auch nur im Stande war sich alleine die Schuhe anzuziehen.

"Wir sehen uns", flötete sie den beiden verdutzt dreinblickenden zu und zog Sylvie hinter sich aus dem Lokal.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt