Karina blieb bestürzt im Konzertsaal zurück. Sie ließ ihr Hinterteil gegen die Bühnenkante sinken, das Notenheft immer noch mit den Fingern umklammert. Als Nächstes hörte sie ein Geräusch an der Saaltür, die sich zaghaft öffnete. Mit einem Mal stand sie wieder kerzengerade da. War das Sylvie? Wollte sie vielleicht doch lieber reden? Oder hatte sie etwas vergessen? Wie auch immer, wenn sie mit ihr alleine war, dann ließ sich bestimmt alles besprechen. Auch wenn sie im Moment gar nicht wusste, was sie sagen sollte. Doch nicht Sylvie kam herein ...
"Erik?," entfuhr es ihr, als sie Sylvies Bruder mit zerknirschtem Gesichtsausdruck eintreten sah. "Was machst du hier?"
"Eigentlich wollte ich Kaprálová hören", sagte er in einem Tonfall, als wollte er sich für seine Anwesenheit entschuldigen. Nun ja, vielleicht lag das auch ein wenig daran, wie sie ihn angefahren hatte. Etwas schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Aber er war nun einmal der Letzte, den sie jetzt hier sehen wollte. Dass er hier war, machte alles nur noch schlimmer!
"Wie viel hast du gehört?", fragte sie ihn, nun mit etwas sanfterer Stimme. Er tauchte wirklich im allerungünstigsten Moment auf.
"Hm", machte er. "Genug."
Karina nickte.
"Das hatte ich befürchtet", seufzte sie. "Tut mir leid."
"Nein", entgegnete er kopfschüttelnd. "Mir muss es leidtun. Der falsche Akkord. Der war von mir."
"Was? Von dir?" Karina stieß ein hysterisches Lachen aus, was ihr von Erik einen verwirrten Blick einbrachte. Dann lächelte er schief.
"Mit den genauen Noten hatte ich's noch nie", sagte er. "Meistens merkt's auch keiner."
Und irgendwie war das so typisch für ihn, dachte Karina. Und mit der Konzentration hatte er's ebenso wenig. Er gehörte zu der Sorte von Musikern, denen man mit der Partitur auf den Fersen sein musste, damit sie nicht zu kreativ mit dem Notentext umgingen. Das Beethoven-Konzert im Sommer schien er sich bereits gut eingeochst zu haben, aber ansonsten konnte sie sich das bei ihm nur allzu lebhaft vorstellen.
Karina lachte noch immer, obwohl ihr eher zum Weinen war. "Und deswegen mussten die Beiden ...?" Sie schüttelte den Kopf und verstummte. Sie sah Erik an der vor ihr stand und sich sichtlich ebenfalls recht unwohl in seiner Haut fühlte.
"Oh, Erik", sagte sie dann mitfühlend. "Es muss furchtbar für dich gewesen sein, das mitanzuhören." Erik zuckte nur mit den Schultern und legte ihr eine Hand auf den Arm.
"Für dich doch auch", sagte er einfach. In dem Moment spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen schossen und sie wischte sich schnell mit dem Ärmel übers Gesicht und versuchte, die Fassung wieder zu erlangen. Erik sah zwar immer noch ziemlich bedrückt aus, doch er schien die Angelegenheit keineswegs als hoffnungslos zu betrachten. „Das kommt schon irgendwie in Ordnung", sagte er und sie spürte abermals seine Hand, die ihr über den Arm strich.
Sie ließen sich nebeneinander in der ersten Reihe nieder und blickten schweigend vor sich hin. Karina überlegte, was sie hätte tun können, um die Beiden rechtzeitig einzubremsen. Und vor allem, was konnte sie jetzt noch tun? Konnte sie überhaupt etwas tun?
"Ich habe das viel zu lange ignoriert", sagte Erik nach einer Weile.
"Ich auch", pflichtete Karina ihm bei.
"Ich dachte, sie würden sich schon anfreunden, irgendwann im Lauf der Woche. Irgendwie ... Oder einander zumindest leben lassen", fuhr er fort und Karina nickte wieder.
"Die Musik", sagte sie. "Ich hatte mir fest eingebildet, sie könnten beim gemeinsamen Musizieren Freundinnen werden. Das war wohl total durch die rosarote Brille." Warum hatte sie bloß gedacht, das würde so einfach sein?
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Aktuelle LiteraturManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...