40. Kapitel

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Jitka spielte die rechte Hand und Erik die Linke. Schließlich übernahm sie beide Hände der Klavierstimme und Erik versuchte den Part der Violine, so gut es ging, dazu zu spielen, doch bevor sich ihre Arme vollends ineinander verstrickten, übersiedelte er in eine tiefere Tonlage und begann etwas ganz anderes zu improvisieren. Und schließlich gaben sie lachend auf.

"Du kannst das Stück auswendig?", fragte Jitka erstaunt. "Du hast mit Sylvie geübt, nicht wahr?"

Erik nickte. "Da kann man es früher oder später auswendig. Sylvie übt sehr gründlich. Nur gut, dass ich für die Gründlichkeit, die sie gerne hätte, im Moment nicht die Ausdauer habe. Sonst hätten wir uns in den letzten Wochen wahrscheinlich die halben Nächte um die Ohren geschlagen."

Besorgt legte Jikta ihre Hand auf Eriks Arm. "Deine Schwester sollte dich nicht so ausbeuten", sagte sie. "Sie mag vielleicht in Wirklichkeit eine Maschine sein, so habe ich immer mehr den Eindruck. Aber sie muss schon einsehen, dass andere das nicht sind."

"Mach dir da keine Sorgen", entgegnete Erik mit einem beschwichtigenden Lächeln. "Sylvie nimmt ohnehin viel zu viel Rücksicht auf mich, das kannst du mir glauben. Und eine Maschine ist sie bei Weitem nicht. Du wirst sehen, sie ist so menschlich und fehlbar ist wie wir alle. Natürlich würde sie das nie zugeben", fügte er augenzwinkernd hinzu. Jitka nickte. Vermutlich hatte Erik damit ganz Recht. Und vielleicht würde sie dann auch erkennen, was es nun war, das alle an ihr so toll fanden.

"Aber diese Stücke habt ihr gut ausgesucht", sagte Erik dann, vermutlich um das Thema zu wechseln. "Ich mag das, wenn ich etwas entdecken kann, das ich vorher noch nicht kannte. Nicht immer nur die alten Schinken, zu denen schon alles gesagt ist und, die schon auf jede erdenkliche Weise gespielt wurden."

"Oh, ja", pflichtete sie ihm bei. "Und bei Karina rennt man mit sowas wirklich offene Türen ein." Immerhin war Karina auch sehr daran interessiert, diese früh verstorbene Komponistin und Dirigentin, die obendrein, genauso wie sie aus Brno stammte, aus dem Dunkel der Geschichte hervorzukramen. Vítězlava Kaprálová war im Jahr 1940 mit nur fünfundzwanzig Jahren vermutlich an Tuberkulose gestorben. Dann kamen zweite Weltkrieg und Kommunismus und während dieser Zeit war sie beinahe in Vergessenheit geraten. Erst seit den 90er Jahren wurde sie in Tschechien hie und da wieder aufgeführt. Aber außerhalb hatten die meisten Leute noch nie von ihr gehört. In musikalischen Nachschlagewerken wurde sie oft nur unter ferner liefen erwähnt.

Eriks Finger bewegten sich immer noch langsam über die Tasten. Er konnte wohl nicht anders, wenn er am Klavier saß. Jitka ging es selbst meist ähnlich.

"Bist du traurig, dass du nicht spielen wirst?", fragte sie in die langsam dahintropfenden, dunklen Töne hinein. "Nein", sagte er, ohne nachzudenken. Er spielte zuerst ein wenig weiter, bevor seine Hand schließlich still hielt und er sie ansah.

"Vielleicht ein wenig", korrigierte er sich. "Aber im Moment soll das eben nicht sein. Dieses Jahr war bei mir wohl nicht das Beste für Konzerte. Aber vielleicht später irgendwann ..." Sie sah ihn nachdenklich an, und vielleicht ein wenig zu bedauernd, denn er beeilte sich hinzuzufügen: "Das macht nichts. Ich habe in der Zwischenzeit so viel anderes gelernt und gemacht. Die Zeit für Konzerte kommt vielleicht wieder, aber im Moment finde ich das gar nicht wichtig."

Er vermied es, über die Krankheit zu sprechen und während der letzten Wochen hatten sie dies oft genug getan, er hatte wohl genug davon, schließlich wurde er auch so ständig daran erinnert. Sie hatte sich während dieser Zeit alles mögliche über Herzklappenoperationen durchgelesen. Sowas war vielleicht ernst, aber für die meisten Leute definitiv kein Todesurteil. Besonders wenn man noch jung war. Eher im Gegenteil. Den Meisten ging es danach wieder gut, und Jitka war sich sicher, dass Erik in gar nicht allzu langer Zeit all das nachholen konnte, was er jetzt verpasste. Er sah sie einen Moment lang an. Vielleicht hatte er erraten, worum sich ihre Gedanken sich drehten. Er hatte auf einmal dieses Lächeln in den Augen, das ihr ein ganz eigenes Kribbeln durch den Körper jagte, und er strich ihr eine Haarlocke aus dem Gesicht. So als wollte er ihr sagen, dass sie sich keine Gedanken machen sollte.

"Ich hab was mit für dich", sagte er dann und bückte sich nach seinem Rucksack, den er neben dem Klavier auf den Boden fallen hatte lassen. Gespannt sah sie ihm zu, wie er die abgegriffene Notenmappe hervorkramte, die sie bereits in Turin klammheimlich inspiziert hatte. Hatte er vielleicht ein Stück mitgebracht, das sie zusammen spielen konnten? Immerhin hatten sie darüber geredet, und dann hatte sich gar nicht mehr die Gelegeheit ergeben zusammen die Bibliotheken zu durchstöbern. Die gemeinsame Zeit war ihnen in Turin einfach so davongerannt.

Er brachte eine Klarsichthülle zum Vorschein, in der eine Menge Notenblätter steckten, und hielt sie ihr hin. Staunend betrachtete sie die erste Seite. "Sommertag für vier Hände", stand da. Doch die Notensysteme waren nicht wie sonst mit Piano 1 und Piano 2, oder Ähnlichem beschriftet, sondern mit Jitka und Erik. Einen Moment lang sah sie ihn sprachlos an. "Ist das von dir?", fragte sie, obwohl das ja offensichtlich war. Er nickte nur.

"Kannst du dich erinnern? Der eine Tag in Turin? Als wir auf dem Turm waren und dann das Gewitter? Da hat alles angefangen und das steckt alles da drin. Nur für uns." Ihre Lippen formten ein 'ohh'. Sowas hatte sie noch nie bekommen. Sie fiel ihm um den Hals und drückte ihn, die klobige Strickjacke, die er immer noch anhatte kratzte ein wenig. "Das ist so lieb! Du bist ein Genie!", flüsterte sie.

"Du weißt doch noch gar nicht, ob es dir gefällt", antwortete er mit einem Lachen.

"Dann sollten wir es schnell ausprobieren, oder?", sagte sie und er nickte enthusiastisch. Und so nahmen sie den Notenstapel aus der Klarsichthülle und stellten ihn auf das Notenpult. Einige Male musste Erik ihr ihren Part vorspielen, denn der Rhythmus war hier und da ein wenig herausfordernd und änderte sich obendrein ständig, aber meistens ging es ganz gut voran.

Es begann mit einer einfachen, gemächlich dahinschreitenden Melodie, die von beiden allerdings nicht synchron sondern ganz leicht versetzt gespielt wurde. In Jitkas Stimme mischte sich schließlich immer wieder ein leichtes Zögern und Stolpern, während Eriks Bassstimme ihr gleichmäßiges Tempo vorerst beibehielt. Allmählich tauchten bei beiden abwechselnd Melodiefetzen auf, die aus verschiedenen italienischen Filmmusiken zu stammen schienen, während sich die mittlerweile recht schnellen Läufe, die Jikta zu spielen hatte immer weiter nach rechts in die höheren Tonbereiche bewegten, gleichzeitig hörte sie von Eriks Seite etwas, das sie an die Sphärenklänge erinnerte, die sie im Aufzug gehört hatten, dann gingen die panischen Läufe langsam auf Eriks Seite über, während Jitkas Noten etwas ruhiger wurden. Mitten in einem dieser Läufe riss Eriks Stimme ab, und Jitkas nur ein paar Takte darauf. Darauf folgte wieder ein dichtes Gewebe an Sphärenklängen, die anfangs sehr schräg und dissonant klangen, sich allmählich jedoch immer harmonischer auflösten.

"Du hast da echt alles miteingebaut!", sagte sie verblüfft, während er die Seite umblätterte. Anscheinend begann hier ein neuer Abschnitt. Wieder die gemächliche Melodie vom Anfang, nur dass sie sich nun beinahe, synchron bewegten, bis auf ein paar Ausreißer, die das Ganze interessant machten. Es mangelte ihm gewiss nicht an originellen Einfällen. In weiterer Folge konnte sie das Plätschern des Brunnens und den Lärm der vorbeifahrenden Autos erkennen, gefolgt von Regenprasseln und Donnergrollen.

Er hatte ihr eine Menge richtig schöner Passagen hineingeschrieben, und natürlich jede Menge Stellen an der einer auf die Seite des anderen hinübergreifen musste, sich ihre Hände überkreuzten und sie einander berührten. Nach einem dritten recht lyrischen Abschnitt endete das Stück mit immer leiser werdenden sich langsam verlierenden Tönen.

Lange saßen sie einfach nur aneinander gelehnt auf dem Klavierschemel und sagten gar nichts. Dann legte sie ihre Arme um ihn und drückte ihn in einem innigen Kuss an sich. "Danke", sagte sie. "So etwas Schönes habe ich noch nie bekommen." Und nur sie beide konnten verstehen, was in diesem Musikstück alles versteckt lag und was sich darin wirklich abspielte.


Übrigens habe ich heute die 1.000 Reads erreicht und da wollte ich noch einmal danke sagen, an alle Leser, Kommentierer und Sternchengeber. Ich freue mich über jede einzelne Reaktion. Mich interessiert natürlich auch sehr, wie die Geschichte und die einzelnen Personen bei euch ankommen, bei wem eure Sympathien liegen usw. (das kann ja bei jedem sehr unterschiedlich sein.) Also wenn ihr Lust habt, könnt ihr mir ja diesbezüglich einmal ein Feedback dalassen.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt