16. Kapitel

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Jitka folgte Erik durch das dämmrige Stiegenhaus in den ersten Halbstock, wo sich die Ferienwohnung befand, in der er mit seiner Schwester wohnte. Beim Eintreten schaltete Erik das Licht ein und Jitka schaute sich neugierig um. Sie fand es immer interessant, einen Blick in die Wohnungen anderer Leute zu werfen. Auch wenn diese hier wohl vielen Wohnungen glich, die von Privatpersonen über das Internet vermietet wurden. Mit Möbelstücken, die hießen wie schwedische Gartenzwerge. Diese hier schien dennoch etwas liebevoller eingerichtet, als die Wohnung, in der sie und Karina während dieser Wochen wohnten. Sie standen in einem schmalen länglichen Vorraum, der wohl gleichzeitig als Wohnzimmer fungierte. Auf der einen Schmalseite des Raumes stand ein Fernsehapparat auf der anderen eine Couch mit einem wackeligen Tischchen davor. Von hier aus führten zwei Türen in angrenzende Räume.

"Hier geht es in Sylvies Schlafzimmer", sagte Erik und deutete auf die rechte Tür. "Die andere Tür führt in die Küche."

"Und wo schläfst du?", fragte Jitka.

"Dort oben", sagte er. Jetzt erst entdeckte sie die Leiter, die neben der Couch zu einer Art erhöhter Mauernische führte. Sie lag unter der Decke des Raumes und über dem Einbauschrank.

"Das schaut gemütlich aus."

Erik nickte nur und führte sie in die Küche: ein quadratischer Raum mit einer Küchenzeile an einer Seite und einem kleinen Esstisch an der anderen.

"Von hier aus geht es auch ins Bad. Wenn du magst kannst du dich mal heiß duschen und ich such dir ein paar trockene Sachen von Sylvie raus, sie hat bestimmt nichts dagegen."

Jitka wollte kurz protestieren, sah aber ein, dass die Alternative gewesen wäre, weiterhin ihr nasses Kleid anzulassen und schön langsam wurde das ungemütlich.

"Du kannst gleich reingehen, Badetücher sind drinnen und ich schau gleich einmal, was ich finde. Ich leg dir die Sachen dann in die Küche."

Die heiße Dusche tat wirklich gut, sie waren schließlich eine ganze Weile in nassen Kleidern herumgelaufen. Als sie in ein Handtuch gewickelt in die Küche zurück kam, hing dort ein Kleidungsstück über dem Sessel. Es war ein dunkelblaues T-Shirt-Kleid, sie konnte sich Eriks Schwester sehr gut darin vorstellen. Es passte zu ihr. Nur keine unnötigen Schnörkeln. Als sie es selbst anhatte, hing es ihr fast bis über die Knie. Vermutlich gehörte das kürzer, aber Sylvie war wie die meisten Menschen ein Stück größer, als Jitka.

"Fertig," rief sie und Erik kam mit seinen trockenen Sachen unterm Arm in die Küche.

"Ich hoffe, es passt dir einigermaßen", sagte er und zeigte auf das Kleid. "Sylvies Hosen sind dir vermutlich etwas zu lang und das hier sah eher größenneutral aus."

"Und es ist bequem", sagte Jitka. "Alles super, danke."

Während Erik unter der Dusche stand schaute sich Jitka ein wenig in der Wohnung um. Sie wollte sich zwar nicht nachsagen lassen, dass sie in anderer Leute Sachen herumschnüffelte, doch Erik erwartete sicher nicht von ihr, dass sie mit geschlossenen Augen im Vorraum sitzen blieb. Sie öffnete vorsichtig die Tür zu Sylvies Schlafzimmer. Ein kleiner Raum, in dem nicht viel mehr, als das darin befindliche Doppelbett Platz hatte. Es lag nichts herum, keine Kleider oder Handtücher. Jitka öffnete den Schrank, an der einen Seite des Raumes, einen Spalt breit, und sah, dass dort alles sehr ordentlich eingeschlichtet lag. Die T-Shirts lagen dort beinahe Kante auf Kante. Auf dem Nachtkästchen lag ein Buch. Als sie einen Blick darauf werfen wollte, bemerkte sie, dass es in kyrillischen Buchstaben geschrieben war. Russisch vermutlich, sie konnte den Titel beim besten Willen nicht entziffern. Es sah nach einem Roman aus, aber da konnte sie sich auch täuschen. Des Weiteren lagen da noch einige Magazine auf englisch und dänisch, die sich mit Politik, Wirtschaft und sonstigen ernsthaften Themen beschäftigten. Nichts in dem Raum deutete darauf hin, dass sie Musikerin war, oder einmal gewesen war. Karina wäre bestimmt enttäuscht.

Aus dem Bad hörte sie, dass das Wasser immer noch lief. Um die Couch herum lag nichts von Eriks Sachen und so wagte sie sich ein paar Sprossen auf der Leiter hoch um einen Blick in seine Schlafnische zu werfen. Sie sah ziemlich geräumig aus, war mehrere Meter breit und ging anscheinend genauso tief in die Wand hinein. Da lag eine große Matratze mit zerwühlten Bettlaken und es war ganz augenscheinlich, dass sich Erik dort oben bequem eingerichtet hatte. Am Fußende neben der Matratze lag sein Koffer, einiges an Kleidung daneben verstreut. Bücher konnte sie keine entdecken, dafür eine Mappe, die halb unter der Matratze eingeklemmt lag.

Sie zog sie vorsichtig hervor und wagte einen Blick hinein und wie sie es erwartet hatte, handelte es sich um Noten, fein säuberlich in Klarsichthüllen nach Stücken sortiert. Zuerst fand sie darunter nichts Überraschendes, Klaviersonaten, die auch durch ihre diversen Notenmappen geisterten, doch der einige lose dazwischenliegenden Blätter erregten ihre Neugier. Es war kein Stück, das sie kannte und garantiert kein alter Klassiker. Darüber stand ein Titel auf dänisch: "Vinteren i Moskvá". Ja, soviel dänisch konnte sie sich gerade noch zusammernreimen. Und daneben stand der Name des Komponisten: Erik Jarnvig. Er hatte es selbst geschrieben, das war richtig interessant. Sie warf einen genaueren Blick darauf. Die Blätter sahen aus wie mit einer Notensoftware geschrieben und ausgedruckt, doch dazwischen hatte er noch einmal mit Bleistift Änderungen angebracht.

Die Blätter waren mit vielen immer schneller dahineilenden, hektischen Noten gefüllt. Dazwischen glaubte sie hier und dort Notenzitate zu erkennen, immer nur ein paar Takte und irgendwie schräg und verfremdet. Aus Tschaikowskys erstem Klavierkonzert. War das nicht, das Konzert, das Erik damals hätte spielen sollen? Nach einigen Seiten kam eine ruhigere Stelle, doch dort brach es ab, und es sah nicht so aus, als wäre das hier das ganze Stück. Vielleicht war es noch nicht fertig. Der Block Notenpapier, der daneben lag und auf dem Handschriftlich einige Tonfolgen und Akkorde notiert waren, deutete darauf hin, dass er noch daran tüftelte.

Es sah danach aus, als versuchte er seine schreckliche Erfahrung in Moskau in einer eigenen Komposition zu verarbeiten. Er tat immer so, als sei das für ihn bereits Schnee von Gestern, aber vermutlich war es das nicht, es beschäftigte ihn nach wie vor. Vorsichtig legte sie die Mappe wieder so hin, wie sie sie gefunden hatte, kletterte hinunter und setzte sich auf das Sofa. Vielleicht konnte sie ihn irgendwie dazu bringen von selbst darüber zu erzählen. Sie konnte ja schlecht sagen, dass sie seine Sachen durchwühlt hatte. Ob er schon mehr eigene Stücke komponiert hatte? Ob er wohl Lust hatte ihr was davon vorzuspielen? Das Prasseln in der Dusche hatte nun aufgehört und einige Augenblicke später stand Erik vor ihr, in frischen Jeans und T-Shirt, die nassen Haare standen ihm in alle Richtungen.

"Na, dann lass uns sehen, ob wir aus Nudeln und Gemüse irgendwas essbares herstellen können. Irgendwie habe ich jetzt Hunger."

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt