Sie hatten gerade den Tisch abgeräumt, als Jitka ins Wohnzimmer zurückkam. Karina bemerkte, dass ihre Freundin etwas verlegen wirkte, als fühlte sie sich fehl am Platz, oder als überlegte sie, ob sie nicht doch wieder zu Erik zurückgehen sollte. Magrethe war in den Keller gegangen, um eine Flasche Rotwein zu holen und Sylvie bereitete in der Küche Oliven und Salzgebäck vor, da sie der Meinung war, das sei nach dem ganzen Süßzeug dringend notwendig.
„Komm her", sagte Karina zu Jitka und legte einen Arm um sie, als sie sich auf den Sessel neben ihr setzte. „Alles klar?", fragte sie.
Jitka zuckte mit den Schultern. „Ich denke schon", sagte sie. „Erik ist einfach müde. Da ist es das beste, wenn er sich ein wenig aus der Affäre zieht." Sie klang nicht ganz überzeugt von ihren eigenen Worten.
„Ihr habt heute schließlich einiges unternommen", sagte Karina Vermutlich war das mehr gewesen, als Erik sich an irgendeinem Tag des letzten Monats zugemutet hatte.
Jitka nickte nur. Karina wusste, dass ihre Freundin sich bemühte, sich nicht verrückt zu machen und vielleicht lag das auch nicht in ihrer Natur. Aber es tat ihr natürlich trotzdem weh, Erik so zu erleben. Wie sehr er sich Mühe gab und diese immer stärker hervorbrechende Ungeduld. Vielleicht darüber, dass er das hier nicht so genießen konnte, wie er es gerne wollte. Vielleicht war es auch Angst.
Und Karina wusste, was von ihr in dieser Runde erwartet wurde: Dass sie die Stimmung löste, wenn sich die Atmosphäre wieder einmal mit Spannung lud. Zumindest schien sich Erik das zu erhoffen, wenn er ihr seine verschwörerischen, manchmal hilfesuchenden Blicke zuwarf. Und dass sie Sylvie besänftigte und ablenkte. Und auch Magrethe? Man konnte schwer in sie hineinschauen. Karina fragte sich, ob sie wirklich so zuversichtlich war, wie sie sich gab, oder ob das auch nur eine Maske war. Alle gaben sich unglaubliche Mühe. Niemand wollte die anderen hinunterziehen, was dazu führte, dass sie alle nicht mehr aussprachen, was sie gerade beschäftigte.
„Jitka, trinkst du auch ein Glas mit?", fragte Magrethe, als sie die Weingläser auf den Tisch stellte.
„Ja, danke", antwortete Jitka und nun stieß auch Sylvie wieder zu ihnen und stellte die Teller, die sie vorbereitet hatte auf den Tisch. Oliven, Salzgebäck und Käse, in äußerst geometrisch kleinen Würfelchen drapiert war. Einen Moment lang stellte Karina sich Sylvie auf einem ihrer Verwandtentreffen in Brno vor. Sie würde mit ihrem Ehrgeiz und Perfektionismus die Hüterinnen des Kuchenbuffets in eine existenzielle Sinnkrise stürzen und es auch noch genießen. Irgendwie gefiel Karina die Vorstellung und sie fragte sich, ob es realistisch war, davon zu träumen, dass es einmal dazu kommen würde. Oder überhaupt erstrebenswert.
Magrethe schenkte den Wein in die Gläser, sie stießen an. Erik, dessen Müdigkeit und die Frage, wie der Tag in der Stadt denn gewesen sei, waren der Elefant im Raum. Niemand sprach das Thema an. Irgendwie war es eine seltsame Situation und es schien dabei um Sylvie zu gehen. Am Morgen hatte Karina noch gedacht, Eriks verärgerter Ausbruch würde bis zum Abend vergessen sein. Doch Sylvie gegenüber blockte er ab. Sie hatte ihren Fehler längst eingesehen und war bereit gewesen, das zuzugeben. Noch etwas, das Karina sehr an Sylvie schätzte. Sie war zwar stur und anmaßend und bildete sich ein, alles besser zu wissen. Aber wenn man sie mit guten Argumenten auf ihren Irrtum aufmerksam machte, dann sah sie diesen auch ein und änderte gegebenenfalls ihre Meinung.
Doch nun war ihre Stimmung getrübt, ihre Entschuldigung war nicht angenommen worden. Karina kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie das kränkte, ohne dass sie es sich eingestehen wollte. Sie schob die Kränkung zur Seite und tat, als wäre nichts.
Sie saßen eine Weile, tranken ihren Wein und redeten darüber, wie sie den Tag verbracht hatten. Das hieß eher, dass Karina erzählte, während Magrethe sie neugierig ausfragte, Sylvie hin und wieder eine Pointe beisteuerte und Jitka schweigsam daneben saß. Doch auch sie wurde schließlich noch gefragt und so erzählte sie artig von allem, was Erik ihr gezeigt hatte. Das war anscheinend vor allem der See und seine Wohnung gewesen. Dem Tonfall ihrer Freundin entnahm Karina, dass es da wohl etwas gab, das sie unter den Tisch fallen ließ, aber das mochte seine Gründe haben. Wenn es wichtig war, würde ihr Jitka das schon noch erzählen. Ob Erik unterwegs einen Schwächeanfall erlitten hatte, den er lieber verschweigen wollte? Oder war es etwas anderes?
„Sylvie, Karina, wollt ihr nicht ein wenig Musik machen?", fragte Magrethe nach einer Weile. „Ihr habt gesagt, ihr habt in Turin und in Prag zusammen dieses Duett geübt. Ich würde euch nur zu gerne zusammen hören."
„Ja, warum eigentlich nicht", sagte Sylvie. Sie ging sofort zum Klavier, wo auch ihre Geige lag und machte sich daran sie zu stimmen.
„Mein Cello ist im Schlafzimmer, ich hole es schnell", sagte Karina. Dafür musste sie zuerst durch Eriks Zimmer. Sie drückte so sachte, wie sie konnte die Türschnalle hinunter, um schnell durchzugehen. Er lag mit geschlossenen Augen und seinen Kopfhörern auf den Ohren auf dem Bett, schlief aber nicht. Denn als er bemerkte, dass jemand durch den Raum ging, öffnete er die Augen und schaute Karina an. Sie bedeutete ihm mit einer Geste, dass er sich nicht stören lassen sollte. Doch als sie auf dem Rückweg mit dem Cellokoffer an ihm vorbei kam, saß er bereits etwas aufrechter auf dem Bett und hatte die Kopfhörer abgenommen. Seine Miene hellte sich auf, als er das Cello sah.
„Spielt ihr?", fragte er.
Sie nickte. „Magst du zuhören kommen?"
„Ja", sagte er sofort, hustete und setzte sich dann endgültig auf. „Der Rachmaninoff ist mir heute etwas zu schwer", sagte er und deutete auf sein Handy, auf dem er die Musik gespeichert hatte.
„Dann komm zu uns, wir spielen Halvorsen."
„Die Passacaglia", stellte er zufrieden fest und Karina nickte. Es handelte sich um ein Stück, das der Norweger Johan Halvorsen im 19. Jahrhundert nach einem Thema von Händel für zwei Instrumente komponiert hatte. In der Originalfassung für Violine und Viola, doch es gab davon mittlerweile Arrangements für sämtliche Instrumentenkombinationen. Es war einfach ein herrliches Stück, um zu zweit zu musizieren.
„Darf ich euch aufnehmen?", fragte Erik.
„Es wird bei Weitem nicht perfekt sein", antwortete Karina.
„Das macht mir nichts." Erik stand vom Bett auf und begann in der Ecke hinter dem Schreibtisch zu kramen. „Durch Zufall habe ich die Mikrophone hier."
„Zufall?", Karina zog eine Augenbraue hoch.
„Nicht ganz", sagte Erik und lächelte schief. „Ich habe sie noch einmal ausgeborgt. Ich dachte, während dieser Woche könnte sich die eine oder andere Gelegenheit bieten, um Vorräte für schlechte Zeiten zu hamstern."
„Meinetwegen kannst du das machen, und deine Schwester wird auch nichts dagegen haben."
Auf diese Bemerkung hin, zögerte er einen Augenblick und sagte dann. „Nein, ich denke nicht, dass sie das wird."
Als sie mit ihm ins Wohnzimmer zurückkehrte, wandten sich ihnen gleich alle Köpfe zu. Oder vermutlich eher zu Erik. Einen Moment lang sah er drein, als wollte er gleich wieder umdrehen. Karina wurde bewusst, wie sehr sie ihn alle ständig beobachteten und versuchten, einzuschätzen, wie es ihm ging. Sie tat das ja selbst. Ihm schien das ziemlich unangenehm zu sein.
Er machte zum Glück nicht kehrt, sondern setzte sich zu Jitka, die es sich bereits auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Er stellte seine Utensilien auf den Tisch und begann dann umständlich seinen Laptop zu verkabeln, wobei Jitka ihm genau zusah, womöglich in der Hoffnung auch einmal zu verstehen, wie man das machte. Sylvie saß mit ihrer gestimmten Geige auf dem Klavierhocker und studierte noch einmal die Noten, während Karina ihr Cello aus dem Koffer nahm, es aufstellte und ebenfalls mit dem Stimmen begann. Sylvie gab ihr die Töne, damit sie dann auch zusammenpassten. Erik wies sie an, wo er die beiden Aufnahmemikrophone platziert haben wollte und damit waren sie bereit zu spielen.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
General FictionManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...