102. Kapitel - Hide ev'ry trace of sadness

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Sylvie füllte die Aufnahmepapiere aus und wurde auf den Wartebereich verwiesen. Informationen über den Zustand ihres Bruders könne man ihr im Moment nicht geben, aber sie würde sofort verständigt, sobald es etwas mitzuteilen gab. Was blieb ihr übrig? Sie war zu lange nach dem Rettungswagen angekommen und hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie vom Haus ihrer Mutter losgefahren war.

Das Taxi hatte sich schließlich an Geschwindigkeitsbeschränkungen und rote Ampeln halten müssen. Obwohl um diese Uhrzeit kaum jemand auf der Straße war, konnte man nicht einfach so durchrasen. Unter anderen Umständen hätte Sylvie das für vernünftig gehalten, Ordnung im Straßenverkehr war ihr durchaus ein Anliegen. Heute Nacht stellte sie solch Kleinkariertheit jedoch ernsthaft in Frage. In Gedanken formulierte sie bereits eine Glosse darüber, dass ein Überdenken und Überarbeiten solcher Fragen ein Thema sei, das sich die in diesem Jahr noch zu wählende Regierung gleich einmal auf die Fahnen heften konnte. Sie wusste natürlich, dass das völlig am Ziel vorbei war. Vincent hatte sie auch nicht in sein Team geholt, damit sie die geltende Gesetzeslage öffentlich zur Debatte stellte. Aber zumindest hielten diese Gedanken sie davon ab, sich detailliert vorzustellen, wie es Erik in diesem Moment wohl erging. Sie konnte ja doch nichts tun, als warten und sich nach Kräften bemühen, währenddessen nicht ganz den kühlen Kopf zu verlieren.

In der Hektik hatte sie sich nicht einmal was zu Lesen mitgenommen. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie hier womöglich länger warten musste. Und jetzt saß sie hier mit Eriks Rucksack, in den sie lauter Dinge gepackt hatte, mit denen er im Moment ohnehin nichts anfangen würde. Konnte das denn so lange dauern?

Sie hatte eine Weile auf ihrem Handy herumgedrückt und sogar einige Notizen zu einer eventuellen Glosse über die geltenden Verkehrsbestimmungen eingetippt, diese allerdings wieder verworfen, als ihr einleuchtete wie unsinnig, hirnrissig und irrational das Ganze war.

Besser machte sie sich auf die Suche nach brauchbaren Tageszeitungen oder Zeitschriften. Leider interessierte Sylvie sich überhaupt nicht für die Fortpflanzungsfragen, irgendwelcher Prinzen und Prinzessinnen aus der zweiten Reihe, die in den bunten Blättchen, die hier überall herumlagen, besprochen wurden. Der Zeitungskiosk im Erdgeschoss hatte noch geschlossen und so striff sie auf ihrer Suche durch die Wartebereiche verschiedener Abteilungen und es hielt sie auch niemand dabei auf.

Schließlich hatte sie ein paar nicht mehr ganz aktuelle Tageszeitungen und ein politisches Wochenmagazin aufgetrieben. Das würde ihre Gedanken einigermaßen beschäftigen und sie konnte die Zeit totschlagen, ohne dabei ihre Gehirnzellen zu töten. Sie musste unbedingt Simon anrufen. Doch ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass das höchstens in zwei Stunden einigermaßen angemessen war, wenn sie es sich nicht mit ihm auch noch komplett verscherzen wollte.

Hin und wieder stand sie auf, holte sich am Automaten einen schwarzen Kaffee, oder machte sich am Empfang bemerkbar, um sicherzugehen, dass man nicht auf sie vergaß. Schließlich beschloss sie, Simon eine Nachricht zu schicken, damit er sie anrief, sobald er wach war. Irgendwann kam eine Frau in einem weißen Kittel auf sie zu.

Sie stellte sich als Ärztin vor und fragte: „Sind Sie die Schwester von Erik Jarnvig?" Sylvie nickte hastig. Plötzlich spürte sie wieder den Klumpen in ihrem Bauch und in ihren Ohren pochte es.

„Gut", sagte die Frau. „Ihr Bruder liegt jetzt auf der Intensivstation. Sie können zu ihm, er freut sich darauf Sie zu sehen."

„Wie geht es ihm?", fragte Sylvie. „Ist er ansprechbar? Warum hat das so lange gedauert? Und wie geht es jetzt weiter?" Sie wusste nicht, was sie zuerst fragen sollte.

„Dr. Nørregard wird gleich bei Ihnen sein, um alles Weitere zu besprechen. Zuerst muss ich Sie bitten, hier die sterile Schutzkleidung anzulegen", sagte die Frau und reichte ihr eine Art großes papierenes Hemd, das sie sich umbinden sollte. Ihre Knie fühlten sich weich an und ihre Hände zitterten. Kaffee und Schlafmangel machten sich wohl bemerkbar. Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass dieser Automatenkaffee irgendeine Wirkung haben sollte.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt