Es war bereits vor längerer Zeit dunkel geworden, als Karina und Sylvie in die kahl wirkende Wohnung zurückkehrten. Unterwegs hatten sie sich noch in einer Bar ein Getränk genehmigt und als sie sich auf dem Rückweg kichernd bei Karina einhängte, stellte Sylvie etwas amüsiert fest, dass sie an derlei Eskapaden nicht mehr gewöhnt war. Vermutlich war sie es nie gewesen. Karina schien das alles weniger auszumachen.
"Ich bin gespannt, wie fit du dann morgen bei der Probe bist. Ich werde mir von Erik jedes Detail schildern lassen!", sagte Sylvie und ließ sich auf das erstaunlich bequeme Sofa fallen.
"Ach, soviel halt ich schon aus", sagte Karina und setzte sich zu ihr. "Von deinem Brüderchen kannst du dir morgen noch ganz andere Sachen erzählen lassen."
"Meinst du?" Sylvie grinste. Sie hatte absolut vor ihren Bruder über den heutigen Abend auszuquetschen. Mit Bedacht natürlich. Nicht, dass er sich überrumpelt fühlte und am Ende gar nichts sagte. Wenn sie es geschickt anstellte, hatte sie gewiss gute Chancen zu erfahren, wie der Abend und die Nacht mit Jitka verlaufen waren. Sie fand, es war Zeit, dass er sich wieder einmal verliebte und Jitka war vielleicht die Richtige dafür. Sie schien in etwa sein Typ zu sein und obendrein war sie mit Karina gut befreundet, das hieß, dass sie höchstwahrscheinlich ein Mensch mit Rückgrat war und, dass man ihr über den Weg trauen konnte.
"Weißt du was?", riss Karina sie aus ihren Gedanken. "Vielleicht ist das heute genau die richtige Gelegenheit um auszuprobieren, wovon wir gesprochen haben."
"Was?", fragte Sylvie verwundert. "Wir haben die Musikinstrumente doch auf der Uni gelassen und die Passacaglia ..."
"Nein, nicht die Passacaglia", lachte Karina. "Mit Musik hat das diesmal nichts zu tun. Warte einen Augenblick ..." Sie sprang auf, verschwand in einem Nebenraum, der wohl das Schlafzimmer war und kehrte mit einer grünlichen Flasche und einigen Utensilien wieder zurück.
"Oh, ist das was ich denke?", rief Sylvie überrascht und Karina hielt ihr die Flasche mit dem von Jugendstilornamenten geschmückten Etikett hin. Es war genau das, nämlich Absinth. Vor einigen Monaten während einer ihrer langen Online-Unterhaltungen hatte Karina festgestellt, dass Sylvie noch nie im Leben welchen getrunken hatte, und war sofort der Meinung gewesen, das müsse man ändern und warum denn nicht während der zwei Wochen in Turin. Sylvie hatte das Gespräch schon fast wieder vergessen. Fasziniert beobachtete sie wie die Andere alle möglichen Zutaten für das dazugehörige Ritual vorbereitete. Die Stimme der Vernunft sagte ihr, dass das jetzt keine gute Idee war. Doch sie war im Urlaub, da konnte sie doch einmal im Leben ein wenig unvernünftig sein. Und wie Karina ihre morgige Probe schaffte, war ihre Sache. Sie war ein erwachsener Mensch und außerdem hatte sie damit angefangen.
Karina warf alle Eiswürfel, die das Tiefkühlfach hergab, in eine Karaffe und füllte diese mit kaltem Wasser auf. Dann nahm sie zwei Gläser aus dem Schrank: "Nicht die perfekten Absinthgläser, aber die werden es wohl tun", kommentierte sie, während sie einen fein zieselierten, löchrigen Absinthlöffel über eines der Gläser legte und ein Stück Würfelzucker darauf platzierte. Dann ließ sie langsam etwas von der blassgrünen Flüssigkeit darüberlaufen, sodass der Würfelzucker sich vollsaugen konnte und der Absinth sich auf dem Boden des Glases sammelte. "Das ist das böhmische Ritual. Vom historischen Standpunkt absolut unkorrekt und Puristen würden mich dafür steinigen, aber es macht einfach am meisten her", erklärte sie, während Sylvie gebannt der Prozedur folgte.
"Lass uns das Licht abdrehen", sagte Karina, und Sylvie legte den Schalter um, sodass nur noch die kleine Lampe in der Ecke schwach leuchtete. Sie fand das hier auf geradezu lächerliche Weise aufregend. Sie kam sich vor wie ein Teenager auf einer Übernachtungsparty, auf der man verwegene Dinge tat, wie eben Absinth trinken oder Geister beschwören, oder zumindest die grüne Fee. Auch wenn sie wusste, dass Absinth vermutlich weniger verwegen war, als sein Ruf. Und mit Teenager-Übernachtungsparties hatte sie wenig Erfahrung, sie war damals nie zu sowas eingeladen worden. Eine die kaum etwas anderes als Geigespielen im Kopf hatte, hatten die anderen wohl seltsam gefunden und sie hatte auch nie so richtig gewusst, worüber sie mit ihren Schulkollegen eigentlich reden sollte, außer über den Stoff für den nächsten Test und dergleichen. Gut, später während des Studiums hatte sie solche Dinge ein wenig nachholen können. Die anderen Musikstudenten waren eher ihr Menschenschlag gewesen, und damals in Moskau hatte es des Öfteren Abende gegeben, die man durchaus als interessant bezeichnen konnte.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficção GeralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...