37. Kapitel

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Sylvie konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen, als sie die beinahe schon kitschige Szene der Wiedersehensfreude beobachtete. Jitka, die wie ein kleiner, roter Gummiball auf Erik zugesprungen kam und dann verschmolzen die beiden zu einem innigen Knäuel aus rotem Trenchcoat und grau-weißer färöischer Wolle.

Erik war schon beim Wegfliegen recht hibbelig gewesen und sie gönnte ihm die Wiedersehensfreude und die Verliebtheit. Vielleicht war es das, was er gerade brauchte. Manchmal beneidete sie ihn, um diese Fähigkeit sich so ganz ohne Vorbehalte auf dieses unbeschwerte Glücklichsein einlassen zu können. Doch insgeheim fürchtete sie, dass ihn das noch verwundbarer machen würde. Was wenn die erste Begeisterung abgeklungen war und der Alltag und die Realität bei den beiden Einzug hielten? Wenn Erik krank war und Jitka durch die Konzertsäle zog. Es würde eine Weile dauern, bis er wieder völlig der Alte war, wenn überhaupt ... Würde sie soviel Geduld haben, würde sie ihn dann immer noch haben wollen? Mit allen Einschränkungen, die ihm vielleicht zurückblieben? Jitka war viel zu jung, sie konnte sich doch gar keinen Begriff davon machen, was das alles wirklich bedeutete. Sylvie konnte es doch auch nicht.

Und Erik selbst schien alles nur noch durch die rosarote Brille zu betrachten zu wollen. Doch wenn er glaubte, dass sie ihn gerade nicht beobachtete, dann schweifte sein Blick in die Ferne und er bekam diesen grüblerischen Gesichtsausdruck. Und er spielte Bachs Fugen und Präludien, lernte sie Stück für Stück auswendig, das tat er immer, wenn er dem Gedankenkarussell in seinem Kopf etwas entgegensetzen wollte.

Als Sylvie Bedenken wegen der Reise und des Fluges Bedenken geäußert und versucht hatte, ihn darauf hinzuweisen, was alles passieren konnte, da hatte er nur gesagt:

"Du bist ja da und passt auf. Wenn es jemandem gelingt den Sensenmann zu fortzujagen, dann wohl dir."

"Gewöhn dir diesen Galgenhumor ganz schnell wieder ab," hatte sie schroff geantwortet. "Das finde ich überhaupt nicht lustig."

Und dann hatte er nichts mehr gesagt, sondern ihr einfach nur seinen Arm um die Schulter gelegt und sie ein wenig an sich gedrückt. Sie hatte sich sehr zusammennehmen müssen, um dabei nicht sentimental zu werden. Oder wütend. Oder alles gleichzeitig. Erik schaffte es momentan, ihre Emotionen ständig gefährlich knapp an den Punkt des Überkochens zu bringen und das war sie von sich nicht gewöhnt.

Das Violinkonzert kam Sylvie sehr entgegen, um solche Regungen in einigermaßen produktive Bahnen zu lenken. Nach so langer Zeit weg vom Fenster, hatte sie während der vergangenen Wochen ihre gesamte Energie ins Üben gesteckt. In der Redaktion hatte sie nicht mehr als das Notwendigste erledigt, die paar nichtssagenden Wohlfühlsätze waren schnell geschrieben, meist von zu Hause aus. Dann musste sie auch nicht mit den Kollegen interagieren, oder gar Vincent oder Sanne auf dem Gang über den Weg laufen. Ironischerweise waren die Produkte dieser Minimalstanstrengung genau das, was von ihr erwartet wurde.

Der Rest des Tages gehörte dann ihrer Violine. Karinas Anfrage, ob sie bereit wäre auch noch drei kurze Stücke mit Jitka zusammen aufzuführen hatte sie ihr nicht abgeschlagen und auch die neuen Partien einstudiert. Wenn man an ihren Ehrgeiz appellierte konnte sie nur schwer nein sagen. Es handelte sich um Stücke von Vítězslava Kaprálová passend zum Klavierkonzert der gleichen Komponistin, das Jitka vortragen würde. Sylvie hatte Erik die Noten kopiert, damit er ihr für den Übungszweck den Klavierpart spielen konnte, und er hatte sich auch gleich eifrig darüber hergemacht. Natürlich war er sehr gespannt auf das Werk dieser Komponistin, das Jitka anscheinend so ein Anliegen war.

Sie hatte sich nur einen Augenblick lang der Betrachtung der beiden Turteltauben hingegeben, als eine bekannte Stimme sie aus den Gedanken riss.

"Sylvie, schön dass du hier bist." Karina war genau vor ihrer Nase aufgetaucht. Sylvie hatte gewusst, dass sie mitkommen würde um sie beide vom Flughafen zu holen. Dass die beiden irgendwo ein Auto organisiert hatten, um Erik und sie in ihre Unterkunft zu bringen. All das hatte sie gewusst, und versucht nicht weiter darüber nachzugrübeln. Und jetzt wo sie vor ihr stand, wusste sie nicht, was sie sagen sollte.

Doch Karina schien gar nicht darauf zu warten. Sie umarmte sie einfach und drückte sie an sich. Sylvie hatte ihren Duft beinahe vergessen gehabt. Dieses etwas zu starke Parfum, das in Sylvie ein unerwartetes Gefühl von Wärme und Geborgenheit weckte. Sie hatte Karina vermisst, ganz furchtbar. Und diese Erkenntnis traf sie mit großer Wucht, wie eine Lawine. Und völlig überraschend.

Doch im Gegensatz zu Jitka konnte sie sich natürlich davon abhalten, gleich in Tränen zu zerfließen. Einen Moment lang schloss sie die Augen und atmete Karinas vertrauten Duft ein. Dann hielt sie kurz die Luft an und zählte im Geiste bis zehn und damit hatte ihre Fassung wieder erlangt. Sie straffte die Schultern, löste sich vorsichtig aus Karinas Umarmung und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. "Ich freue mich auch", sagte sie mit einem unverbindlichen Lächeln.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt