64. Kapitel

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Jitka warf die Tür des Beethoven-Salons hinter sich zu. Sie starrte kurz den großen Flügel an, der vor ihr stand. Ihr erster Gedanke war es gewesen, sich daran abzureagieren. Irgendwas Wildes, Energiegeladenes zu spielen, an dem sie ihre Wut loswerden konnte, und das Gefühl, dass sie sich schämte. Dann würde sie wieder klar denken können. Dann konnte sie sich überlegen, was sie als Nächstes tun wollte. Aber nicht einmal das ging jetzt.

Sie stapfte zur anderen Seite des Raumes, schaute aus dem Fenster, setzte sich doch an den Flügel und schlug mit beiden Händen ein paar dissonante Akkorde an, und stellte dabei fest, dass dieser Flügel total verstimmt war. Harrrr! Beethoven hätte ihnen dieses verdammte Ding sowas von um die Ohren geschleudert. Er hätte es einfach aus dem Fenster geschmissen, jawohl! Und Sylvie war selbst schuld. Jitka hatte ihr nichts ins Gesicht gesagt, was nicht auch stimmte! Wie konnte man nur so kleinlich sein. Wie hatte Erik das nur all die Jahre mit ihr ausgehalten. Es war doch kein Wunder, dass er ständig alle Zustände bekam. Und, dass Sylvie aus lauter Groll ihren Bogen kaputt machte, dafür konnte Jitka nun wirklich nichts.

Aber sie hatte auch Karinas ratloses Gesicht gesehen und für Karina tat ihr das Ganze auch leid. Sie wollte ihr weder weh tun, noch die Sache für sie komplizierter machen, als sie ohnehin schon war. Auch wenn Jitka nach wie vor davon überzeugt war, dass Sylvie Karina irgendwie mit einem bösen Zauber belegt haben musste. Gut, Karinas Bereitschaft sich Hals über Kopf zu Verlieben war ihr dabei vermutlich gelegen gekommen.  Die Freude, die sie alleine am Verliebtsein zu haben schien und dabei, diese Frau von früh bis spät anzuhimmeln.

Und Erik? Sie mochte gar nicht daran denken, wie sie ihm das alles erklären sollte. Er würde es nicht verstehen und es würde ihm wehtun. Sylvie bedeutete ihm alles. Und Jitka hatte sich Im Grunde vorgenommen, sich zumindest ihm zuliebe mit Sylvie zu vertragen. Warum ging das einfach nicht? Gut, sie hatte sich auch vorgenommen, sich von Sylvie nicht alles gefallen zu lassen, so wie die anderen das taten. Warum war sie einfach so ausgerastet? Wann war der genaue Moment gewesen, in dem die Situation derart eskaliert war? Sie seufzte, schlug ihre Ellenbogen auf die vergilbten Tasten, sodass sie einen kakophonischen Lärm von sich gaben, und lümmelte unglücklich ihr Gesicht in die Hände. Sie hatte sich in eine Ecke manövriert, aus der sie vermutlich nur herauskonnte, indem sie klein beigab.

Während sie so saß und Trübsal blies, hörte sie, wie sich auf dem knarrenden Parkettboden des Nebenraumes rasche Schritte näherten. Sie stoppten zögernd vor der Tür zum Beethoven-Salon. Jitka richtete sich gerade auf und blickte die Tür an, die im nächsten Moment aufflog und Karina herein wirbelte.

"Dachte ich doch, dass du hier steckst", sagte sie.

"Der Flügel ist total verstimmt", beschwerte sich Jitka und ärgerte sich im gleichen Augenblick darüber, dass ihr nichts Besseres dazu in den Sinn kam. Der Flügel war doch im Moment komplett egal.

"Was ist dir da eigentlich eingefallen?", kam Karina wenigstens sofort auf den Punkt. "Ist es denn wirklich so schwer, mit Sylvie auszukommen?"

"Wenn du es genau wissen willst, es ist in unmöglich! So wie die sich aufführt! Sie hat mich doch provoziert."

"Bei sowas gehören immer zwei dazu", entgegnete Karina.

"Ja genau! Dann gibst du also selbst zu, dass deine Sylvie auch kein Unschuldslamm ist?"

"Verdammt noch einmal, es ist mir völlig egal, wer Schuld ist. Ich will, dass ihr euch benehmt, wie erwachsene Menschen und zusammen dieses Konzert spielt, ohne euch gegenseitig umzubringen. Ist das zu viel verlangt? Plan B wäre, wir streichen die Kaprálová-Stücke und ihr spielt einfach eure Solo-Konzerte. Allerdings sind die Programme bereits gedruckt und ich kann schlecht sagen, dass wir einen Teil des Programms weglassen müssen, weil die Solistinnen es nicht schaffen drei Stücke zusammen zu spielen ohne einander dabei an die Gurgel zu gehen. Wäre doch lächerlich sowas."

Jitka blickte betreten in eine andere Richtung und sagte nichts. Irgendwie hatte Karina ja Recht und das machte die Sache nicht weniger unangenehm.

"Übrigens ist Erik die ganze Zeit vor der Tür gestanden und hat alles mitgehört", sprach Karina weiter. "Das solltest du, denke ich, auch wissen."

Jitka riss die Augen auf. "Was!", schrie sie und sprang von ihrem Klavierschemel auf, sodass dieser scheppernd nach hinten rutschte. "Ich muss zu ihm! Wo ist er? Wie hast du ihn nur alleine lassen können?", rief sie während sie zur Tür stürzte, doch Karina trat ihr in den Weg und sie fühlte sich an den Schultern gepackt, sodass sie sich nicht losmachen konnte.

"Mach dir jetzt keine Gedanken um ihn. Er hat es erstaunlich gefasst aufgenommen, immerhin kennt er seine Schwester schon lange genug. Er ist hinunter gegangen, um mit Sylvie zu reden. Er will nur, dass ihr beide einander mögt und etwas anderes will ich auch nicht."

Jitka blickte Karina verzweifelt an. Beim Gedanken daran, dass sie Erik vielleicht, ohne es zu wollen, weh getan hatte, zog sich alles in ihr schmerzhaft zusammen und die Tränen begannen ihr einfach so übers Gesicht zu laufen. So eine dumme Streiterei wahr wohl wirklich das Letzte was er noch irgendwie gebraucht hatte.

"Ich will doch auch nicht streiten", presste sie hervor. "Aber wie soll ich das denn machen? Ich hab es doch versucht. Ich verstehe wirklich nicht, wie ihr beide das macht mit Sylvie." Sie schniefte und Karina kramte nach einem Taschentuch, das sie ihr reichte. Sie wischte sich damit übers Gesicht, was überhaupt nichts nützte. Sie fühlte sich von Karina auf einen der orangefarbenen Plastiksessel bugsiert. Ihre Freundin zog einen weiteren Sessel hinzu und setzte sich neben sie.

"Sylvie tut immer recht kratzbürstig, aber davon darf man sich einfach nicht beeindrucken lassen. Zu mir ist sie manchmal genauso."

"Siehst du? Und das verstehe ich nicht. Sie ist auch so zu Erik. Warum lasst ihr euch das nur gefallen?"

"Weil sie es gar nicht böse meint. Wenn man hinter ihre Fassade blickt, dann ist sie ein äußerst liebevoller und empfindsamer Mensch und die Menschen, die sie einmal lieb gewonnen hat, über die würde sie nie im Leben etwas kommen lassen."

"Siehst du? Das ist das Problem", antwortete Jitka und putzte sich die Nase. "Sie mag euch. Sie liebt dich und Erik, aber mich mag sie nicht. Sie hat mich immer schon so komisch angesehen. Sie hat mir nie eine Chance geben wollen."

"Sie scheint da etwas skeptisch zu sein ...", gab Karina nachdenklich zu bedenken.

"Meinst du, sie ist irgendwie eifersüchtig? Hat sie am Ende Angst, ich könnte ihr ihren geliebten Bruder wegnehmen?" Das war doch lächerlich.

Karina legte den Kopf schief. "Nein, das denke ich nicht so sehr. Sie will ihn beschützen. Sie will nicht, dass er enttäuscht wird. Besonders jetzt. Sie scheint alles Schlechte von ihm fernhalten zu wollen, und sie merkt vielleicht nicht, dass sie dabei ist ihm auch das wegzunehmen, was ihm guttun könnte. Sie befürchtet, du könntest dich von ihm abwenden, wenn die Dinge nicht mehr so schön und romantisch sind. Wenn es ihm schlecht geht und nichts Vernünftiges mehr mit ihm anzufangen ist." Jitka starrte betreten vor sich hin. Sie dachte nicht gerne daran, dass es ihm bald schlecht gehen würde. Sie versuchte, diese Gedanken zu vermeiden, wo sie konnte. Aber sie wusste, dass die Zeit kommen würde und sie war bereit dafür, sie wollte für ihn da sein, wenn er sie brauchte. Auch, wenn das über die Entfernung schwierig sein würde.

"Ich werde ihn sicher nicht enttäuschen oder gar im Stich lassen", sagte sie.

"Dann beweis es ihr. Verzieh dich nicht in deinen Schmollwinkel, nur weil du denkst, sie mag dich nicht. Beweis ihr doch, dass du die einzig Richtige für ihren Bruder bist. Dann wird sie dich akzeptieren."

Jitka seufzte. Was Karina sagte, klang vernünftig, und irgendwie war es ihr damit gelungen, auch wieder ihren Ehrgeiz anzustacheln. Sie konnte Sylvie beweisen, dass sie gut genug für Erik war. Vielleicht ging das nicht von heute auf morgen, aber sie wollte sich Mühe geben. Und wenn Sylvie versuchte sie zu provozieren, dann würde sie immer wieder versuchen ruhig durchzuatmen und nicht darauf einzusteigen. Sie würde es Sylvie beweisen. Darin war sie doch immer schon gut gewesen: Anderen zu beweisen, dass sie sie unterschätzt hatten. Dass sie eben nicht nur ein kleines Mädchen war, das überall problemlos zum Kindertarif hineinkam und abends beim Ausgehen ständig nach dem Ausweis gefragt wurde und dann wurde ihr immer noch nicht geglaubt, dass sie schon zweiundzwanzig war. Dann würde sie eben ihre innere Größe unter Beweis stellen. Sie wusste zwar noch nicht wie sie das machen sollte, aber Sylvie würde gewiss Augen machen und Erik auch. Dann konnte auch er stolz auf sie sein.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt