Das Konzert war wie im Rausch an Sylvie vorübergezogen. Als sie am Ende mit einem Blumenstrauß im Arm von der Bühne ging und von Karina, von Jitka und allen möglichen anderen Leuten umarmt wurde, war ihr, als sei es eine Andere gewesen, die da draußen gespielt hatte. Dabei hielt sie ihre Geige und den Bogen mit dem frisch geklebten Plättchen ja selbst in der Hand. Karina küsste sie immer wieder und alles war einfach nur wunderschön.
„Du warst großartig!", versicherte ihr Karina mehrmals. „Und du erst!", antwortete sie ihr dann.
Irgendwann tauchte auch ihr Bruder auf und drückte sie ebenfalls. Es war, als stünde sie neben sich, als beobachte sie sich von außen, wie sie ihn auf die Wangen küsste und ihm dafür dankte, dass er sie zu diesem Auftritt überredet hatte. Erik strahlte von einem Ohr zum anderen und würde damit vermutlich erst aufhören, wenn ihm mal wieder der Kreislauf wegbrach.
Karina drückte Sylvie ein Glas Sekt in die Hand und sie wurde von irgendwelchen wildfremden Leuten belagert, die ihr Fragen stellten. Eine kleine Wortspende für Radio Prag. Ob dieses Konzert denn bedeute, dass sie ein Comeback auf die Bühne plane? Nein, das ganz gewiss nicht. Als Nächstes fragte jemand, ob sie sich vorstellen könne nächstes Jahr beim Prager Frühling aufzutreten. Ja, warum denn eigentlich nicht? Irgendwann wusste sie schon nicht mehr, was sie zu wem gesagt hatte, oder wie oft Karina ihr Sekt nachgegossen hatte.
Einmal stand eine schwarzhaarige Dame mit zwei gelangweilten Mädchen im frühen Teenageralter vor ihr. Karina wurde einige Zentimeter größer, als sie Sylvie der Dame vorstellte und dann mit blitzenden Augen sagte:
„Sylvie, darf ich dir Sophie vorstellen?"
„Těší mě", sagte Sylvie gewiss zum hundertsten Mal an diesem Abend und schüttelte der Frau die Hand. Später boxte sie Karina in die Seite. „Sophie? DIE Sophie?"
„Keine Ahnung von was für einer Sophie du redest", gab Karina zurück, allerdings mit einem Grinsen und einem Leuchten im Gesicht, als sei es etwas komplett Bemerkenswertes, dass Sylvie sich an den Namen ihres Cellos erinnerte.
Als Nächstes stand sie vor einer etwas kleineren Frau, die aussah, als sei sie mit Karina verwandt. Die beiden umarmten einander, wechselten ein paar Worte auf Tschechisch und dann sagte Karina: „Mama, das ist Sylvie."
Die Frau sah sich Sylvie ruhig von oben bis unten an, murmelte noch einmal etwas auf Tschechisch in Karinas Richtung und erklärte Sylvie dann in gebrochenem Englisch, sie habe wunderschön Geige gespielt. Sylvie bedankte sich höflich. Karinas Mutter machte keinen unfreundlichen Eindruck, sie schien nur nicht zu wissen, was sie mit Sylvie anfangen sollte. Es war Sylvie nicht entgangen, dass sich Karina heute ein wenig demonstrativ benommen hatte. Das hatte sie nicht gestört, alles war im Rahmen geblieben, nichts Übertriebenes. Jetzt wusste sie jedenfalls warum. Karina hatte ihr erzählt, dass sie sich wünschte, ihre Familie könnte endlich einmal akzeptieren, dass sie so war, wie sie eben war. Dass ihr Frauen besser gefielen. Und, dass das eben keine Phase war, aus der sie wieder rauswachsen würde. Wo war Karinas Vater eigentlich? Hatte sie nicht gesagt, der würde auch mitkommen? Nun tauchten zwei weitere Menschen neben Frau Majkusová auf.
„Oh, ich sehe, meine halbe Verwandtschaft ist hier!", rief Karina übermütig. „Sylvie, das sind mein Cousin Honza und seine Frau Markéta."
Markéta beglückwünschte sie beide, sie wirkte fast etwas nervös, als sie Sylvie die Hand schüttelte, aber das Konzert schien ihr ehrlich gefallen zu haben.
„Meine Frau wollte ja unbedingt kommen", erklärte Honza. „Normalerweise schlafe ich in Konzerten immer ein. Aber die erste Hälfte war recht gut", sagte er anerkennend zu Sylvie. „Wahnsinn, dass Ihnen da nicht die Finger abfallen", fügte er hinzu.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
قصص عامةManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...