Es war, als hätte sich die drückende Atmosphäre im Raum mit einem Mal gelichtet. In dem Moment, als Sylvie und Karina zur Tür hinaus waren. Erik atmete auf. Er wusste es zu schätzen, dass Sylvie sich um ihn sorgte und Rücksicht nahm. Er war ihr dankbar dafür und manchmal wusste er echt nicht, was er ohne Sylvie tun sollte. Aber es gab auch Momente, in denen ihre Aufmerksamkeit so schwer auf ihm lag, dass er kaum noch das Gefühl hatte frei atmen zu können.
Das Blickduell zwischen seiner Schwester und Jitka war ihm nicht entgangen. Sylvies vorwurfsvoller Blick, in dem auch gleichzeitig eine Drohung lag. Es war schon gut, dass sich Jitka davon nicht einschüchtern ließ, aber in dem Moment hatte er einfach nur gehofft, dass sie nicht gleich aufeinander losspringen würden.
Karina begriff scheinbar oft auf Anhieb, was er dachte, ganz ohne Worte. Und es schien, als hätten sie beide eine unausgesprochene Abmachung. Oder vielleicht war es auch nur der Umstand, dass es absolut in Karinas Interesse lag, Sylvie so oft wie möglich zu entführen und bei sich zu haben. So verhielt es sich doch auch mit dem Violinkonzert. Karina war immer dafür gewesen, dass Sylvie spielen sollte, und gleichzeitig hatte Sylvie jetzt eine Aufgabe, die sie vielleicht eine Weile lang ablenken und ihren Ehrgeiz anstacheln würde. Bevor sie diesen auf eine Art auslebte, die weder ihm noch ihr selbst gut tun konnte.
Abgesehen davon war er froh gewesen, mit Sylvie während der letzten Wochen auch ein anderes Thema zu haben, als immer nur diese verdammte Krankheit. Er hatte beim Einstudieren sehr gerne den Klavierpart übernommen. Manchmal dachte er, es wäre schön, öfter mit seiner Schwester zusammen zu musizieren. Nicht nur zu Weihnachten. Zumindest was das Musikalische anging, so verstanden sie einander meist, ohne viele Worte zu wechseln.
"Vielleicht sollten wir auch einen Spaziergang machen", schlug er vor. Irgendwie fühlte er sich jetzt schon recht ausgelaugt und das ärgerte ihn. Er versuchte, sich einzureden, dass er das auch unter normalen Umständen gewesen wäre. Nach der Anreise. Der Flughafen von Kopenhagen hatte ihm noch jedes Mal den letzten Nerv geraubt. Die Vorfreude, Jitka wieder zu sehen. Und schließlich hatte es ihn nicht wenig nervös gemacht, Jitka sein Stück zu geben. Es war ein Wunder, dass er sich beim gemeinsamen Durchspielen nicht öfter verspielt hatte. "Ich würde gerne ein wenig an die frische Luft."
Jitka nickte zustimmend. "Aber dir geht's doch gut, oder?", fragte sie und schaute ihn prüfend an.
Erik lächelte sie an und nickte. "Ja, hier mit dir kann's mir doch nur gut gehen. Ich bin nur ein klein wenig müde, das gebe ich zu."
"Gut." Jitka nickte zufrieden. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihm direkt in die Augen. "Wenn etwas nicht stimmt, oder wenn dir was zu viel ist, dann sagst du auf jeden Fall sofort Bescheid. Sonst bekomme ich Probleme mit deiner Schwester und die will niemand."
"Nein, die willst du garantiert nicht", pflichtete Erik ihr lachend bei. "Ich meld mich schon. Versprochen."
"Ich will dich nämlich nicht alle drei Minuten fragen müssen."
"Nein, bloß nicht. Wenn wir das hier so normal wie möglich gestalten könnten, wäre ich dir dankbar. Es reicht, wenn meine Schwester so tut, als wäre ich ein rohes Ei."
"Versprochen." Er spürte nun ihren Arm, der sich etwas enger um seinen Oberkörper legte und er zog sie in eine Umarmung, küsste sie und eine Weile lang sagten sie nichts. Er versuchte sich einfach auf das Gefühl zu konzentrieren, sie hier bei sich zu spüren, sie hatte ihm viel zu sehr gefehlt, während der letzten Zeit.
"Komm' lass uns gehen", sagte er dann. Sie zogen sich an und verließen dann ebenfalls das Haus. Die Gassen lagen in warmes Licht getaucht und waren um diese Uhrzeit noch ziemlich belebt. Es gab hier eine ganze Menge an Lokalen, die noch geöffnet hatten. Doch irgendwann bogen sie in eine ruhigere Gasse ein. Er wusste längst nicht mehr, welchen Weg sie gegangen waren, er verließ sich ganz auf Jitka, immerhin kannte sie sich hier besser aus.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficción GeneralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...