Jitka bemühte sich, ihren Arm unter Eriks Kopf auszufädeln, ohne ihn aufzuwecken. Es war schön gewesen. Fast so wie in ihrer ersten gemeinsamen Nacht in Turin. Es war ihr kürzer vorgekommen. Danach hatten sie ein wenig geredet und dabei war er mitten im Satz eingeschlafen. Zwar war das bei Männern meist so, aber dennoch begann sie sich nun Gedanken zu machen.
Sie war natürlich froh gewesen zu hören, dass ihn Sex nicht umbringen würde, aber sie hoffte trotzdem, dass er jetzt nicht all seine Energien verbraucht hatte und den ganzen Tag verschlafen würde. Das hätte die Aktion nicht gerechtfertigt, zumindest nicht wenn es nach ihr ging. Sie hatte ihn lieber so frisch und munter, wie es eben ging bei sich. Und das Andere konnte warten.
Irgendwie sah er schon süß aus, wie er so ganz friedlich, mit entspanntem Gesichtsausdruck, und für seine Verhältnisse tief und fest schlief. Immerhin war er nicht aufgewacht, als sie ihren Arm weggezogen hatte. Sie wusste, dass er meistens nicht besonders gut schlief, nachts öfter aufwachte. Vielleicht würde ihm das jetzt zumindest gut tun, vielleicht war er nachher umso ausgeruhter.
Sie stand auf, schlich so leise, wie sie konnte aus dem Zimmer, schloss die Tür und stellte sich erstmal unter die Dusche. Damit, dass Eriks Energiereserven begrenzt waren, würden sie für die nächste Zeit eben leben müssen. Er versuchte, es runterzuspielen, aber es war, wie es war. Und es würde schließlich nicht für immer sein. Und bis dahin wollte sie ihn gerne dabei unterstützen das Beste draus zu machen. Dafür sorgen, dass trotzdem alles so normal blieb wie möglich.
Sie zog sich an, und entdeckte dann in der Küche, dass Karina ihnen Frühstück dagelassen hatte. Die überließ auch nichts dem Zufall. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass ihre Freundin, in ihrem Enthusiasmus für das Frühstück mit Sylvie viel zu viel eingekauft hatte, und jetzt hatte sie ihnen einfach die Sachen rübergebracht, die alt wurden, wenn man sie zu lange aufhob. Jitka machte sich Kaffee und begann an einem Rohlik zu knabbern, während es sie instinktiv zum Klavier zog. Dort lagen auf dem Pult noch immer die Noten für den Sommertag.
Daneben auf dem Boden stand Eriks Rucksack. Der Reißverschluss stand halb offen und sie konnte sogar die grüne Notenmappe sehen, doch sie widerstand der Versuchung und bremste ihre Neugier ein. Meistens spielte er ihr seine neuesten Werke ohnehin vor, oder er schickte ihr eine Tondatei mit einer vorläufigen Fassung, um ihre Meinung dazu zu hören. Aber über dieses eine verstörende Stück, das sie im Sommer bei ihm gefunden hatte, hatte er ihr nie etwas erzählt und sie konnte ihn auch nicht gut danach fragen. Es war damals noch unfertig gewesen und sie fragte sich, ob er in der Zwischenzeit daran weitergearbeitet hatte. Vielleicht hatte er es auch verworfen. Vielleicht wollte er sich nicht länger mit dieser für ihn so schlimmen Phase beschäftigen, gerade jetzt, wo er genug andere Probleme hatte und es vermutlich das Beste war, sich mit positiven Gedanken zu beschäftigen. So wie mit dem Sommertag.
Sie steckte die Noten in die Klarsichthülle, um sie beim Frühstücken nicht mit Butter und Marmelade zu beklecksen. Wenn sie so drüber nachdachte, so war der Sommertag auch nicht durchgehend positiv und leichtfüßig beschwingt. Da klang einiges an Melancholie und dissonanten Vorboten mit. Das machte das Stück auch interessant. Auch wenn Erik versuchte, nach außen hin immer so ruhig und gelassen zu wirken, hatte sie den Eindruck, dass er sich in diese seltsamen Stimmungen manchmal bewusst hineinkippen ließ. Vielleicht, um sie künstlerisch zu nutzen. Irgendwie fand sie das beunruhigend. Aber es schien seine Art zu sein mit seinen Erfahrungen umzugehen. Er hatte in letzter Zeit eben so einiges erlebt und würde bald noch mehr erleben, womit er irgendwie umgehen musste.
Sie beschloss, die Zeit damit zu verbringen, sich ordentlich in die Noten zu vertiefen. Am liebsten hätte sie gleich direkt am Klavier geübt, aber sie wollte Erik nicht wecken. Also studierte sie ihre Stimme, so gut es ging, beim Küchentisch sitzend, während ihre freie Hand auf der Tischplatte imaginäre Tasten anschlug. Sie versuchte, sich die Struktur einzuprägen, so wie die Stellen, an denen sie besonders aufmerksam sein musste, und die schnellen Rhythmuswechsel.
Nach einer Weile ging die Schlafzimmertür auf und Erik stand mit betretenem Gesichtsausdruck im Türrahmen. Sie sah ihm an, dass er gerade dabei war zu einer Reihe von Entschuldigungen anzusetzen, doch noch bevor er irgendein Wort formulieren konnte, sprang sie auf, schlang ihm ihre Arme um den Hals und zog ihn zu sich herunter, sodass er gar nichts mehr sagen konnte.
"Schau, Karina hat uns was zum Frühstücken hier gelassen. Sehr nett von ihr, findest du nicht auch?"
Er nickte nur und sah immer einfach nur verschlafen drein, vielleicht hatte sie ihn auch überrumpelt. Das war ihm wohl zu viel Energie am frühen Morgen. Sie strich ihm mit den Fingern durch die struppig abstehenden Haare und lächelte.
"Geh mal unter die Dusche, ich stell dir den Tee hin." Sie wusste bereits, dass Erik das mit dem Kaffee seit geraumer Zeit hatte bleiben lassen. Sicherheitshalber. Und während sie im Bad die Dusche laufen hörte, durchforstete sie die Küchenschränke. Karina hatte irgendwas davon gesagt, dass da noch wo Tee sein musste. Und richtig, sie, fand eine Schachtel mit einem Sammelsurium verschiedener Teesäckchen, die der Posaunist vor seiner Abreise nicht mehr aufgebraucht und für die Gäste dagelassen hatte. Sie sah sich die verschiedenen Sorten durch, aber er würde sich schon selbst was aussuchen. Andrerseits hatte er eben nicht den Eindruck gemacht, als wäre er besonders wild darauf, jetzt solche Entscheidungen zu treffen. Sie fand ein Säckchen mit der Aufschrift 'Guten Morgen', anscheinend eine Kräuter-Früchtetee-Mischung. Duftete auch sehr gut. Sie goss eine große Tasse mit heißem Wasser voll, hängte das Guten-Morgen-Säckchen hinein, und stellte es auf den Tisch. Sie selbst machte sich auch noch einen Kaffee und da kam Erik auch schon wieder aus dem Bad. Frisch geduscht, angezogen und mit nassen Haaren machte er einen viel frischeren Eindruck als vorhin und er setzte sich zu ihr an den Tisch.
"Bist du jetzt wach?", fragte sie und grinste ihn an.
"Ja, ich glaube jetzt schon." Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und verschwand gleich wieder. "Tut mir leid", sagte er betrübt. "Dass ich da einfach so wegschlafe und unsere Zeit vergeude. Ich habe mich total geärgert, du hättest mich wachrütteln sollen."
"Hättest du noch viel länger geschlafen, dann hätte ich das bestimmt getan", sagte sie augenzwinkernd. "Aber wir haben noch den ganzen Tag vor uns. Und ich habe die Zeit genutzt und mich mit unserem Stück beschäftigt." Sie zeigte auf die Noten, woraufhin seine Miene sich sofort aufhellte. Es war, als hätte er nur auf das Stichwort gewartet.
"Weißt du", sagte er. "Ich würde uns echt gerne aufnehmen. Meinst du wir könnten das diese Woche noch einigermaßen hinkriegen?" Er sah sie gespannt an.
"Ja, natürlich! Tolle Idee, aber das hier ...?" Sie deutete auf das Pianino. Es war zwar ganz okay zum Spielen und Üben, aber für eine schöne Aufnahme nicht das Ideale.
"Nein, nein", sagte Erik und nun blitzte ihm der Enthusiasmus wieder aus den Augen. Er schien sich alles schon überlegt zu haben. "Also das Beste wäre, wir könnten im Konzertsaal irgendwann ein halbes Stündchen abzweigen. Wenn wir es mit ein oder zwei Durchgängen hinkriegen, müsste das reichen. Ich habe zwei geeignete Mikrophone aus dem Studio ausgeborgt. Ich habe meiner Chefin einfach erzählt, was ich vorhabe und sie war einverstanden. Ich habe alles mitgebracht, was für eine einigermaßen brauchbare Aufnahme notwendig ist."
"Du, das wäre absolut genial!" Sie war begeistert von dem Gedanken eine Aufnahme zu haben, auf der sie das Stück zusammen mit Erik spielte. "Das mit dem Konzertsaal geht bestimmt. Wir müssen nur mit Karina reden, die ist für sowas immer zu begeistern. Sie wird zuhören wollen, das sag ich dir gleich ..."
"Solange sie nicht laut mitklatscht und mitsingt, kann sie das doch tun. Sie kann uns dann gleich sagen, ob es auch nach was klingt."
So war die Sache abgemacht. Und kaum, hatte auch Erik sein Frühstück beendet, saßen sie wieder zusammen am Klavier und übten. Für Sightseeing war später auch noch Zeit, Prag würde ihnen nicht davonlaufen.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
General FictionManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...