13. Kapitel

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"Du bist immer noch richtig gut. Ich denke, das weißt du", sagte Karina, nachdem sie einige Stücke durchprobiert hatten. Sylvie war immer für ihre hervorragende Technik bekannt gewesen. Dafür, dass sie die schwierigsten Partien schneller spielen konnte, als die meisten anderen und dabei aussah, als handle es sich lediglich um eine beiläufige Fingerübung. Zusammen hatten sie keine dieser technisch anspruchsvollen Partien gespielt, sondern sich auf Kompositionen beschränkt, die ihnen beiden einigermaßen geläufig waren und, die sie ohne viel Vorbereitung zusammen spielen konnten. Etwas Bach und etwas Schubert ...

Dabei war Karinas Bewunderung nur noch gewachsen. Sylvie spielte nicht nur technisch einwandfrei, sondern auch ihr musikalisches Gefühl, die Interpretation und der Ausdruck - alles passte einfach zusammen. Immer ausgewogen, man konnte gewiss nicht behaupten, dass sie ihr Spiel in übertriebenen Emotionen ertränkte, ganz im Gegenteil, damit war sie äußerst geizig, doch gerade das machte den Reiz aus. Die Töne entsprangen ihrem Instrument wie ein schlanker, kühler Fluss, vielleicht wie ein Gebirgsbach im Fühling an dessen Ufern gerade die letzten Eiszapfen tauten.

Sylvie lächelte, dankbar für das Kompliment, sah aber keineswegs verlegen aus.

"Nun ja, ich bin nicht ganz aus der Übung", sagte sie. "Allerdings würde ich mir bei einigen der Stücke von damals, heute die Finger brechen. Dass ich nur spiele wann und worauf ich Lust habe, hat zur Folge, dass ich die Sache wohl nicht mehr ganz so sportlich betrachte. Dafür mache ich jetzt wirklich Musik", fügte sie mit einem ironischen Grinsen hinzu. Karina schaute sie an und legte den Kopf schief. Irgendwie wünschte sie sich dennoch eine Sylvie, die das Violinspiel absolut sportlich betrachtete, hatten die Welt und die Musik nicht eine solche Sylvie verdient?

"Hast du das gemeint, als du gesagt hast, du seist kein Zirkuspferd?", fragte sie, während sie ihr Cello wieder sorgfältig in seinem Kasten verstaute. Sie hatte immer wieder darüber nachgedacht, was Sylvie mit dieser Bemerkung genau gemeint haben konnte. Natürlich wollte man das Publikum in Erstaunen versetzen. Zeigen was man konnte. Anfangs hatte Karina sich etwas vor den Kopf gestoßen gefühlt, eine solche Bemerkung gerade von der Frau zu hören, die sie so sehr bewunderte. Doch dann war sie nur noch neugieriger geworden. Auf Sylvie und ihre Motive. Und darauf, wie man sie wohl dazu bringen konnte wieder aufzutreten. Jetzt nachdem sie mit ihr zusammen musiziert hatte, war Karina nur noch mehr davon überzeugt, dass Sylvie ihr Talent nicht so verstecken konnte. Sie war viel zu gut um nur in Mutters Wohnzimmer oder auf kleinen dänischen Benefizabenden aufzutreten.

"Ja, das habe ich damit gemeint", sagte Sylvie. Sie strich mit dem Finger noch einmal über das dunkle Holz der Violine und klappte dann den Geigenkasten zu. "Wenn es nur noch darum geht, den Geschwindigkeitsrekord irgendeines Stargeigers beim Hummelflug zu überbieten, hat das mit Musik nicht mehr viel zu tun, meinst du nicht auch? Dann könnte ich ebenso gut Dressurreiterin, Eisschnelläuferin oder was auch immer werden. Violinspiel ist noch keine olympische Sportart."

"Aber du hättest dich umorientieren können. Es gibt so viele Violinsolisten, die ganz ohne diese Tricks und Purzelbäume auskommen."

"Aber nicht ich. Und da bin ich vermutlich selbst Schuld. Ich hatte mir mein Publikum so erzogen, dass ständig neue Kunststücken von mir erwartete und wenn ich die nicht lieferte, hieß es gleich, ich hätte nachgelassen, der Erfolg sei mir zu Kopf gestiegen oder ähnliches."

"Ach, den Leuten kann man es doch nie Recht machen. Du könntest dir dein Publikum umerziehen, jemandem wie dir gelänge das doch mit Links. Die unmusikalischen Sensationsgeier wären gegangen und dann hättest du nur noch für jene gespielt, die eine gute Musikerin zu schätzen wissen."

"Vielleicht bin ich ja die Unmusikalische", antwortete Sylvie in absolut unironischem Tonfall und Karina verstand noch weniger. Sie verschlossen die Tür zum Proberaum und wanderten, während sie sich unterhielten, über die Gänge und Treppenhäuser der Musikuniversität hinauf in den zweiten Stock zu dem Kämmerchen, das Karina für die Dauer der Meisterklasse zur Verfügung stand. Dort konnten sie die Instrumente sicher verstauen.

"Das ist wohl nicht dein Ernst", sagte Karina. Warum klang Sylvie nur so ruhig und abgeklärt, wenn sie solche Dinge aussprach?

"Weißt du," sagte Sylvie. "Ich habe viel drüber nachgedacht. Ich weiß nicht wie viele Stunden in meinem Leben ich mit Üben verbracht habe. Ich habe immer geübt, um ein neues Stück perfekt zu beherrschen, um andere zu beeindrucken. Aber wenn ich mir meinen Bruder anschaue, der übt einfach nur, weil er das gerne tut. Ihm ist es nie um Kunststücke gegangen. Wenn er ein Stück für ein Konzert aussucht, dann wählt er es, weil er es mag, weil es ihm am Herzen liegt. Ich habe Stücke taktisch gewählt, weil ich wusste, dass ich damit alle beeindrucken kann. Das ist der Unterschied."

"Willst du damit sagen, dass du nicht gerne gespielt hast?", fragte Karina ungläubig, sie konnte sich das kaum vorstellen. Sylvie sagte einen Moment lang nichts und zuckte dann mit den Schultern.

"Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mehr, ob ich es damals noch gerne gemacht habe. Aber jetzt spiele ich gerne."

Karina horchte auf. Sie platzierte den Cellokasten stabil in die Ecke des Kämmerchens und schob die Violine in eines der leeren Regalfächer.

"Wäre das dann nicht ein guter Moment, um neu anzufangen? Du hast wieder Spaß daran. Die Erwartungen des Publikums sind gewiss auch abgekühlt. Du könntest dich einfach neu positionieren. Von vorne anfangen." Sylvie sah sie an, ihr Gesicht zeigte wie so oft keine Regung, aber nach den Tagen die sie bisher zusammen verbracht hatten, wusste Karina, dass Sylvies Gedanken einem solchen Vorhaben gegenüber durchaus skeptisch waren. Sie hatten dieses Gespräch auf die eine oder andere Art schon öfter geführt. Aber sie wollte Sylvie wissen lassen, dass sie ihre Meinung immer noch ändern konnte.

"Vielleicht wäre im Herbst in Prag der richtige Zeitpunkt. Ich lass dir einen Platz im Programm frei und du weißt, ich würde mich freuen."

Jetzt zeigte sich ein Lächeln in Sylvies Gesicht. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und legte Karina eine Hand auf die Schulter.

"Das weiß ich," sagte sie. "Und trotzdem sage ich nein. Ich überlasse diesen Platz lieber denen, die ihr noch mehr vorhabt. Dir, Jitka, Erik und all den anderen. Das ist nichts für mich. Ich habe jetzt einen anderen Job, der mir sehr gut gefällt. Und jetzt komm lass uns endlich was trinken gehen." Sie drückte die Tür auf und bugsierte Karina aus dem stickigen Kämmerchen hinaus.

Karina versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte schon auf verschiedenste Weise versucht, Sylvie zu überreden, an diesem Konzert teilzunehmen, und war jedes Mal abgeblitzt. Aber sie hatte keinesfalls vor aufzugeben. Irgendwann würde sie nachgeben. Sie musste sich nur eine bessere Strategie überlegen. Doch für den Moment hatte es  keinen Sinn. So viel hatte sie bereits gelernt: wenn Sylvie ein Thema abblockte, dann fand man sich besser damit ab. Vorerst.

Lachend schlenderten sie durch die leeren Gänge der Universität hinaus ins Freie. Draußen hatte sich der Himmel mittlerweile zusammengezogen und es blies ein heftiger Wind.

"Wenn das kein Gewitter gibt", sagte Sylvie und blickte stirnrunzelnd zu den dichten, schwarzen Wolken hinauf. Im gleichen Augenblick spürte Karina auch schon die ersten schweren Regentropfen im Gesicht.

"Los, gehen wir zu mir", sagte Karina. "Unser Ferienappartement ist gleich um die Ecke und ich habe noch eine Flasche Wein, die probiert werden will. Wir schauen uns das Gewitter einfach vom Balkon aus an."

"Gewitterschauen am Balkon?", erwiderte Sylvie und hakte sich bei Karina unter. "Das klingt ganz nach meinem Geschmack."

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt