34. Kapitel

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Eriks Einzimmerwohnung war klein und unnötig vollgeräumt. Er betrachtete das vermutlich als kreatives Künstlerchaos, Sylvie eher als Zumutung. Aber sie kannte ihren Bruder lange genug und wusste, dass es wenig Sinn hatte sich darüber aufzuregen und abgesehen davon, wirkte es hier trotzdem erstaunlich gemütlich.

Er sammelte ein paar herumliegende Kleidungsstücke vom Sofa auf und stopfte sie in einen Schrank. Das Sofa war im Grunde ein Schlafsofa, auf dem er nachts schlief und die Bettwäsche zog er prinzipiell nur dann ab, wenn Besuch kam. Heute war es einladend mit einem Überwurf und ein paar Kissen drapiert. Er hatte sich also fix vorgenommen, Sylvie hereinzubitten. Für etwas, das er ganz dringend besprechen musste. Was auch immer das war.

"Willst du Tee?", fragte er und begann in der Kochnische mit dem Geschirr zu klappern und den Wasserkocher zu befüllen.

"Ja, gerne", sagte sie und ging wie von selbst zum Klavier hinüber. Eriks heißgeliebtes Pianino, das flankiert von einem mit Notenordnern und Heften befüllten Regal an der Schmalseite des Raumes stand. Auf dem Boden stapelten sich weitere Sammelsurien von Büchern, Klarsichthüllen und losen Blättern, die nicht mehr ins Regal passten. Er würde entweder ein neues Regal brauchen, das in dieser Wohnung allerdings nirgends mehr hinpasste, oder sich von Material trennen müssen. Es war wirklich nicht notwendig, alles aufzuheben. Diese Hefte mit den Duos für Harfe und Klavier würde er in nächster Zeit bestimmt nicht mehr brauchen. Doch sie widerstand der Versuchung ihm Hilfe beim Ausmisten anzubieten.

Stattdessen inspizierte Sylvie den Stapel, der direkt auf dem Klavier lag. Sie fand es immer aufschlussreich, zu sehen, woran Erik gerade übte. So nahm sie den Stapel auseinander. Einige lose Blätter legte sie zur Seite und fand das ziemlich abgegriffene und von Kaffeeflecken verunzierte Heft mit Bachs Goldberg-Variationen, ebenso wie Das wohltemperierte Klavier in ähnlichem Zustand.

Sylvie wusste, dass er sich diese Sammlungen immer wieder hernahm, wenn er für sich selbst spielte. Die Notenhefte schienen ihm dabei eher als Abstellfläche für Kaffeetassen zu dienen. Einige der Präludien und Fugen spielte er auswendig, wenn er abschalten wollte. Nichts, das er jemals irgendwo aufgeführt hätte. Die Harmonien, die Regelmäßigkeit und die Ausgewogenheit dieser Kompositionen in ihren verschiedenen Tonarten schienen ihm dabei zu helfen seine Gedanken zu sortieren und die Nerven zu beruhigen.

Es war das Erste gewesen, das er gespielt hatte, nachdem er letzten Winter wochenlang kein Klavier mehr angerührt hatte. Sie hatte ihn vorübergehend in ihrem Schlafzimmer einquartiert, und war selbst auf das Sofa in im Musikzimmer übersiedelt. Ein Kämmerchen, in dem ihr E-Piano stand samt einem Schrank in dem sie ihre Noten und die Geige, samt Zubehör, wie Saiten, Bogenbespannung und was man sonst noch brauchte, aufbewahrte. Sie hatte eine Abdeckung über das Piano gezogen, um es irgendwie aus Eriks Sichtfeld zu bringen. Er sollte sich nicht unter Druck setzen und erst wieder Klavier spielen, wenn er sich dazu bereit fühlte.

Der Moment war schneller gekommen, als sie gedacht hatte. Eines Tages war sie von der Arbeit gekommen und aus dem Musikzimmer tönten Bach-Präludien. Und Erik hatte so ruhig und mit sich im Reinen gewirkt wie schon lange nicht mehr. Seine Finger hatten aufgehört zu zittern, er war nachts nicht mehr ständig durch die Wohnung getigert, sondern hatte geschlafen.

Während der nächsten Tage war er ständig am Klavier gesessen, hatte immer die gleichen Präludien gespielt, die er auswendig kannte, manchmal nur die gleichen fünf Takte, immer und immer wieder. Irgendwann hatte er zu Improvisieren begonnen. Er hatte während dieser Zeit wenig gesprochen, aber sie hatte ihn zumindest immer wieder vom Klavier fort locken können, damit er etwas aß, oder, um ihn auf einen Spaziergang mitzunehmen. Von da an war es mit ihm wieder bergauf gegangen.

Doch außer den Bach-Noten und einigen von ihm selbst bekritzelten Notenblättern lag da nichts. Eigentlich hatte Sylvie schauen wollen, was er für Prag in Vorbereitung hatte, aber da konnte sie nichts finden. Auf der anderen Seite lag noch ein dicker Wälzer. H. C. Andersens Märchen in einer kommentierten Ausgabe, die wie Sylvie feststellte aus der Bibliothek stammte.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt