Am nächsten Morgen zog Karina ihren für diesen Anlass mitgebrachten Hosenanzug an und sie schnappte sich ihr Cello und die Notentasche. Auf dem Weg in die Stadt setzte Magrethe sie an einer der U-Bahnstationen ab, bevor sie wieder mit Jitka zum Krankenhaus fuhr. Sylvie wiederum hatte von dort nicht weit zur Redaktionskonferenz. Alle wünschten ihr Toitoitoi und sie gab ihnen schöne Grüße für Erik mit.
Mit der U-Bahn fuhr sie zur sogenannten DR-Stadt, dem hochmodernen Gebäudekomplex, etwas außerhalb des Stadtzentrums, in dem der Dänische Rundfunk residierte. Sie hatte sich in das Segment 4 zu begeben, einen großen, kobaltblauen Würfel, den man kaum übersehen konnte, das war das Konzerthaus. Es stand dort seit nicht einmal zehn Jahren und war die Heimat der musikalischen Ensembles, die der Dänische Rundfunk sich hielt. Vom Mädchenchor über Vokalensemble bis eben zu dem Radiosymphonieorchester, für das sie sich als Subdirigentin bewarb.
Sie hatte sich im Internet Auftritte des Orchesters angehört und angesehen und war sofort begeistert gewesen von diesem gleichzeitig modern und äußerst angenehm wirkenden Konzertsaal, in dem die Zuschauerplätze auf Terrassen rund um das Orchester gruppiert waren und es praktisch keine rechten Winkel gab. Sylvie hatte ihr Geschichten von Finanz- und Bauskandalen erzählt und, dass das Projekt aus dem Architekturbüro von Jean Nouvel einige Millionen Dänischer Kronen mehr als geplant verschlungen hatte, aber das tat Karinas Faszination keinen Abbruch. Die Vorstellung, dass sie mit etwas Glück ab Herbst ihr Arbeitsleben hier, und ihr Privatleben mit Sylvie verbringen konnte, ließ sie einfach nur über den Dingen schweben. Es gab nichts, was sie sich im Moment sehnlicher wünschte.
Der Vorstellungstermin verlief sehr korrekt und professionell und sie kam während des Wartens mit einigen der anderen Bewerber ins Gespräch. Sie konnte allerdings nicht herausfinden, wie viele wirklich in die engere Auswahl gekommen waren. Wie meistens waren die Anderen großteils Männer, aber zumindest würde sie das unter den Bewerbern herausstechen lassen. Auch beim Gespräch mit dem Vorstand, waren dessen Mitglieder durchaus der Meinung, eine Frau am Pult würde sich gerade in der heutigen Zeit gut machen. Zumindest sagten sie das.
Karina machte sich nichts vor, sie würde öffentlich vermutlich nicht allzu oft in Erscheinung treten. Man würde sie eher für Proben und Arbeiten im Hintergrund einsetzen. Vielleicht ein eigenes Konzert pro Saison, vielleicht zwei oder drei, falls sie sich im Lauf der Zeit als fähig herausstellte. Sie würde sich natürlich mächtig ins Zeug legen, um ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen. Man stellte ihr die üblichen Fragen, auf die sie sich bereits gescheite Antworten überlegt hatte. Warum gerade das Dänische Radiosymphonieorchester? Wo sehen Sie sich in zehn Jahren? Welche Musik liegt ihnen am Meisten? Warum gefällt Ihnen das? Was können Sie sich gar nicht vorstellen?
Dass sie unlängst ein Konzert mit Sylvie Poulsen dirigiert hatte, sorgte einigermaßen für Aufsehen. Gerade hier war Sylvie keine Unbekannte, und natürlich wussten alle, dass sie sich aus dem Konzertbetrieb zurückgezogen hatte. Und eine junge Dame aus Prag sollte sie nun wieder zurück auf die Bühne geholt haben? Wenn auch nur für ein Konzert. Karina wollte ihre Beziehung zu Sylvie nicht an die große Glocke hängen, also sagte sie einfach, sie habe Sylvie letzten Sommer persönlich kennen gelernt und sie habe sich dankenswerter Weise spontan bereiterklärt, für einen erkrankten Kollegen einzuspringen. Das war schließlich nicht gelogen. Die Damen und Herren würden vermutlich weiter darüber spekulieren, ob die Poulsen ein Comeback plante. Sie hielt sich aus solchen Debatten heraus, war allerdings nach wie vor sehr entschlossen, die Poulsen über kurz oder lang zu so einem Comeback zu überreden.
Schließlich dirigierte sie in einem der Probensäle den ersten Satz der zweiten Beethoven-Symphonie, dann hatte das Komitee genug gehört und gesehen. Ob Sophie, die die ganze Zeit geduldig in der Ecke gewartet hatte, ihr Glück gebracht hatte oder nicht, wusste sie in dem Moment noch nicht. Man würde sich melden, es seien ja noch weitere Kandidaten zu sichten.
Sie war jedenfalls froh, den Termin hinter sich zu haben. Auch wenn sie sich keiner übertriebenen Nervosität bewusst gewesen war, fühlt sie doch wie sich soetwas wie vorsichtige Erleichterung in ihr breit machte. Mit dem Cello auf dem Rücken spazierte sie zurück zur U-Bahnstation und rief Sylvie an, die immer noch in der Redaktion war und ziemlich angespannt klang. Von Karinas Vorschlag, sich zusammen irgendwo ein Mittagessen zu suchen, bevor sie sich auf den Weg zu Erik machten, hielt sie wenig. Sie schlug vor, sich direkt im Eingangsbereich des Rigshospital zu treffen. Schließlich rief sie auch noch Jitka an, die ihr erzählte Erik habe eine schreckliche Nacht hinter sich, er sei aber jetzt definitiv auf dem richtigen Weg. Ab nun ginge es bergauf.
Als sie Sylvie in der Eingangshalle des Krankenhauses traf, war diese der genau gegenteiligen Meinung. Sie schimpfte, dass Jitka keine Ahnung habe und alles ohnehin nur durch die rosarote Brille sehe. „Genauso wie meine Mutter, die zwei haben sich echt gefunden", brummte sie.
„Immerhin haben die beiden mit den Ärzten gesprochen", warf Karina ein. „Da werden sie wohl genau erfahren haben was Sache ist." Und Sylvie war diesmal nicht dabei gewesen, woher wollte sie also so genau Bescheid wissen.
„Jitka versteht nicht ausreichend dänisch um diese Gespräche zu verstehen und meine Mutter versteht das ganze Ärztelatein auch nicht, außerdem hat sie zu viel Respekt vor den weißen Kitteln um nachzufragen, bis sie alles verstanden hat. Zum Schluss kommt bei ihr immer nur das heraus, was sie hören will."
„Du traust ihnen nicht?", fragte Karina, als sie in den Lift stiegen.
„Was das betrifft, nicht unbedingt", entgegnete Sylvie. „Ich hätte Simon mitnehmen sollen", fügte sie hinzu.
„Immer redest du von diesem Simon, wer ist das überhaupt? Muss ich eifersüchtig werden?", fragte sie scherzhalber, auch um Sylvie ein wenig zu necken und sie auf andere Gedanken zu bringen.
„Ach, mach dich nicht lächerlich. Das ist so ein junger Typ in Vincents Abteilung. Er hat Medizin studiert. Wenn man einen Auskenner bei der Hand hat, muss man das auch nutzen."
„Hat er sich dann nicht im Gebäude geirrt? Wäre er nicht hier besser aufgehoben, als bei Vincent in der Innenpolitik?"
„Er hat das Studium abgebrochen. Die Innenpolitik scheint ihm besser zu liegen."
„Und deswegen ist er deine erste Adresse für medizinische Ratschläge?", stellte Karina schmunzelnd fest. Ohne Simons Kompetenz wirklich in Abrede stellen zu wollen, war sie fast schon erfreut, dass Sylvie auch einmal etwas offensichtlich Irrationales tat. Gleichzeitig fragte sie sich, ob das nicht eher ein Anlass zur Sorge war.
„Lassen wir das, das führt zu nichts", würgte Sylvie das Thema ab. „Jetzt erzähl mir lieber haarklein wie dein Vorspielen verlaufen ist. Ich hoffe du hast sie umgehauen. Was anderes erwarte ich nämlich nicht von dir."
Aber das erzählte Karina dann später bei Erik im Zimmer, denn die anderen waren schließlich genauso brennend an ihrem Bericht interessiert. Selbst, wenn es noch kein Ergebnis zu vermelden gab.
DU LIEST GERADE
Das Schicksal spielt in Dur und Moll
General FictionManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...