101. Kapitel - Halb hinüber ...

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Er hatte gedacht, es würde vergehen. So wie die anderen Male auch. Ein wenig Ruhe und alles wäre wieder gut. Zumindest fast. Einigermaßen so wie heute Morgen. Das reichte. Es war ihm glänzend gegangen. Das würde es wieder. Gleich. In einer Weile.

Doch als er in Jitkas Gesicht sah, spiegelte sich darin die Angst, die er gerade versuchte wegzuschieben. Und er wusste, diesmal würde es nicht von selbst weggehen. Das rasende Hämmern in seiner Brust, die Schmerzen. Als bohrte ihm jemand seine Knie in den Brustkorb. Wie sollte er da atmen?

Nur kurz durchhalten, hörte er Sylvie irgendwo sagen. Die Rettung würde kommen. Die hatten Infusionen und Medikamente und alles, was helfen würde. Wenn es denn nicht anders ging? Nur kurz noch durchhalten. Was blieb ihm sonst übrig?

Da war auch Mama. Sie summte ... sov sødt barnlille ... schlaf so süß, wie der Vogel im Wald, wie die Blumen auf der Wiese ... ein wachsamer Engel kam auch vor in dem Lied ... er wollte mitsummen, doch dazu fehlte ihm die Luft. Er konnte nach Luft schnappen, soviel er wollte, nichts davon schien in seinen Lungen anzukommen ... und es tat weh, selbst das Atmen, warum tat ihm nur alles so weh?

Irgendwann war der Rettungswagen offensichtlich eingetroffen. Gut. Und er selbst war auch noch da. Sie hatten ihre Nadeln und Schläuche und eine Sauerstoffmaske dabei. Er hätte nicht gedacht, dass er den Gedanken daran irgendwann einmal beruhigend finden könnte. Sie zupften, stachen und drückten an ihm herum. Es half zumindest ein wenig. Er konnte wieder ein paar Worte am Stück herausbringen. Man musste sich an die Strohhalme klammern, die sich boten.

Sie würden ihn nun ins Krankenhaus bringen und er wusste, dass er diesmal nicht so schnell wieder rauskommen würde, wie beim letzten Mal. Gerade jetzt. Er hatte keine Zeit für sowas. Jitka war doch hier. Konnten die ihn vielleicht einmal noch irgendwie gesundspritzen? Nur für ein paar Tage. Bis Jitka wieder abreiste. Dann konnte er sich immer noch ins Krankenhaus legen. So lange wie notwendig.

Er spürte, wie sie ihn hochhoben, Gurte wurden über seinen Körper gezogen, damit er nicht von der Trage fiel. Alle tauchten vor ihm auf: Jitka, Mama und Karina. Sylvie fehlte. Wo war Sylvie? Hatte er sie nicht gerade noch gesehen? Er war gemein zu ihr gewesen. Er hatte sich geärgert, hatte seine Ruhe haben und sich nicht mit ihr auseinandersetzen wollen, aber das hatte sie trotzdem nicht verdient ...

Alle drückten ihn noch einmal. Warum so ein Drama, fragte er sich. Es war doch kein Abschied für immer. Sie würden ihn doch besuchen kommen? Als sie ihn in den Rettungswagen schoben und er plötzlich mit den Sanitätern alleine war, bekam er es mit der Angst zu tun. Was geschah jetzt? Wann sah er sie alle wieder?

Einer der Burschen meinte, er müsse sich keine Sorgen machen, außerdem sei seine Schwester auch gerade auf dem Weg. Sylvie. Natürlich würde sie da sein. Sie würde sich nicht einmal erlauben auf ihn böse zu sein.

Erik schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Atmen, die Schmerzen ließen etwas nach. Vermutlich hatten sie ihm irgendein Mittel gegeben, und es fing an zu wirken. Das wilde Pochen in seiner Brust und in seinen Ohren war immer noch da. Er wusste, dass ihm das mehr Angst machen sollte. Seltsamerweise ließ die Angst jetzt wieder nach. Er war zu sehr auf das Atmen konzentriert. Außerdem wurde ihm schlecht von der Fahrt. Am Rande bekam er mit, dass er sich einige Male übergeben musste. Dann hüllte ihn die Erschöpfung vollkommen ein. Er hörte laute Stimmen rufen, doch er hatte keine Lust mehr, sich gegen die angenehme Dunkelheit zu wehren. Er ließ sich hineinfallen und die Angst und die Schmerzen blieben irgendwo anders.

Grelle Lichter rissen ihn wieder aus der wohligen Dämmerung, er wehrte sich dagegen, so lange er konnte. Irgendwas drückte ihm in den Magen, das Gefühl kannte er irgendwoher. Er blinzelte. Er lag auf einem Bett in einem kleinen Raum mit Knöpfen an der Wand. War das der Aufzug? Da war auch wieder die freundliche alte Frau im weißen Frotteebademantel. „Erik, da bist du ja wieder", sagte sie. Und er lächelte sie an. Irgendwie erfreut sie zu sehen und von ihr begrüßt zu werden. Neben ihr stand auch das kleine Mädchen. Es trug eine Glocke um den Hals und hatte auf dem Kopf eine rot-weiß gestreifte Strickmütze. Es sah ein wenig aus wie die Zwerge auf dem Baum.

„Darf ich das Klingeln hören?", fragte er. Da blieb der Aufzug stehen. Er blinzelte überrascht und im nächsten Augenblick waren die alte Frau und das Kind fort. Da war nun eine Frau in einem weißen Kittel, die irgendwas von Sauerstoffmangel redete. Von Verwirrtheit und Halluzinationen. Die konnte doch nicht ihn meinen. Er hatte das wirklich gesehen. Aber er wollte nicht fragen, ob sie das Mädchen schon einmal gesehen hatte. Er wusste schließlich, dass man das nur sah, wenn man selbst schon halb hinüber war. Er wunderte sich nicht, dass er es sehen konnte. Es machte ihm auch keine Angst, sondern nahm es einfach so hin. Dann wurden erneut alle ganz hektisch und er fragte sich warum.

Als er wieder etwas mitbekam, lag er immer noch in dem Bett, aber es ging nun nicht mehr ganz so hektisch zu. Wenn man von den nervtötenden Geräuschen absah. Ein Piepsen und ein Schnaufen. Er blinzelte und sah sich um, um sich zu orientieren. Da waren grüne Vorhänge. Er konnte ziemlich schnell identifizieren, dass das Piepsen von einem Apparat zu kommen schien, der neben dem Bett stand. Das Schnaufen war näher. Das war er selbst. Immerhin musste er sich im Moment nicht gar so anstrengen dabei.

„Herr Jarnvig, Ihre Schwester würde gerne reinkommen", sagte jemand. Erik nickte nur. Warum war sie noch nicht da? Doch da war sie schon. Sie hatte eine Art Papiersack an, der die gleiche Farbe hatte, wie die Vorhänge.

„Dr. Nørregard wird auch gleich hier sein. Er wird mit Ihnen Beiden alles weitere besprechen." Er sah, dass Sylvie nickte und dann auf ihn zukam. Er streckte einen Arm nach ihr aus und griff nach ihrer Hand. Sie strich ihm über die Wange und küsste ihn auf die Stirn. Sie sah fast so müde aus, wie er sich fühlte. Es tat ihm leid, dass sie sich wegen ihm die Nacht um die Ohren schlagen hatte müssen. So vieles tat ihm leid. Aber er wusste, wenn Sylvie nur hier war, konnte ihm nichts mehr passieren.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt