67. Kapitel

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Karina stand im Konzertsaal und blickte Jitka nach, als Sylvie hereintrat. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen, wirkte jedoch ziemlich abgekämpft. Solche hochemotionalen Dramen erlebte sie vermutlich selten. Und wenn man sich, wie Sylvie, so sehr anstrengte, nur ja keine Emotionen nach außen zu lassen, dann machte das die Angelegenheit bestimmt nicht weniger kräfteraubend. 

"Komm her", sagte Karina einfach, ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und im nächsten Moment spürte auch sie Sylvies Arme, die sich um ihren Oberkörper legten. Sie spürte Sylvies Kinn auf ihrer Schulter und roch den herben Duft, den ihre Haare verströmten. Sie hatte sich selbst nach dieser Nähe gesehnt und war nun gleichermaßen überrascht und erleichtert, dass es Sylvie einmal genauso ging. Oder zumindest, dass sie es diesmal auch zulassen wollte. Natürlich brauchte auch Sylvie manchmal jemanden zum Anlehnen auch, wenn es für sie anscheinend etwas ganz Furchtbares war, das zuzugeben.


Karina spürte, wie ihr die Tränen der Erleichterung übers Gesicht liefen. Und sie konnte nichts dagegen machen, wollte das auch nicht. Sie hatte so sehr gefürchtet, Sylvie endgültig verloren zu haben. Und ihre Freundschaft zu Jitka hatte sie ebenfalls bereits bröckeln sehen. Sie war sich nicht sicher, ob nun alles gekittet war, aber Jitka hatte einen zuversichtlichen Eindruck gemacht und Sylvie wirkte nicht so, als wollte sie auf der Stelle abhauen. Im Gegenteil. Sie spürte, wie ein Zittern durch Sylvies Körper ging und sie hielt sie einfach nur fest, gleichzeitig drückten auch Sylvies Arme sie noch stärker und dann hörte sie, wie die Andere tief einatmete und sich langsam von ihr löste.

"Das hat gut getan", sagte sie, immer noch die Arme auf Karinas Schultern. Ihre Haare wirkten zerzaust und ihre Gesichtszüge immer noch irgendwie aufgelöst. Sie blickte Karina an und begann ihr mit ihren rauhen Fingern die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.

"Du verwischt mir noch die ganze Wimperntusche", schniefte Karina und lachte verlegen.

"Die wirst du neu machen müssen", stellte Sylvie fest und auch auf ihrem Gesicht zeigte sich ein Lächeln. "So kannst du nicht auf die Straße. Die Leute müssen glauben, wir sind alle aus einer Seifenoper ausgebrochen." Karina grinste und wischte sich selbst mit den Fingern übers Gesicht, sie sah vermutlich mittlerweile aus wie ein Pandabär. Ihr letztes Taschentuch hatte sie außerdem Jitka gegeben.

"Ach, mir ist jetzt ganz egal, wie ich aussehe. Hauptsache du haust mir nicht nach Grönland ab."

"Warum sollte ich nach Grönland abhauen?", fragte Sylvie stirnrunzelnd.

"Keine Ahnung. Weil du uns alle nicht mehr sehen willst?"

"So ein Unsinn." Sie strich Karina noch einmal übers Gesicht und über die Haare. "Es wird jetzt wirklich Zeit, dass wir wieder vernünftig werden. Sonst landen wir wirklich noch in einer Seifenoper. Und dann müsste ich erst recht nach Grönland oder sonst wohin fliehen, weil das hielte ich auf die Dauer nicht aus."

"Gut, dann komme ich mit", sagte Karina.

"Abgemacht", antwortete Sylvie. "Aber zuerst haben wir ein Konzert zu proben und bereits einen ganzen Vormittag damit verplempert Seifenoper zu spielen. Jitka findet auch, dass wir jetzt wieder mal was arbeiten könnten."

"Lässt sich machen. Der Saal ist am Nachmittag besetzt, aber wir könnten zu mir nach Hause. Du müsstest selbstverständlich mit einem Ersatzbogen vorliebnehmen und mein hundsordinäres Pianino kann mit dem Konzertflügel hier auch nicht mithalten."

"Jitka und ich werden uns arrangieren", erklärte Sylvie großzügig.

"Dann wird es mir ein Vergnügen sein mit euch in meiner bescheidenen Hütte zu proben", erklärte Karina zufrieden. Selbst wenn sie bei ihr daheim nicht die Akustik und die Voraussetzungen des Konzertsaals hatten, so konnten sie es sich zumindest schön gemütlich machen, und schließlich gab es noch eine Generalprobe.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt