14. Kapitel

123 21 4
                                    

Die Wolken hatten sich fast vollständig über der Engelsstatue zusammengezogen und Erik spürte einen frischen Windhauch über sein Gesicht streichen. Für einen kurzen Moment kam es ihm vor, als wehte ihm auch der blumige Duft von Jitkas Haaren um die Nase. Nach dem unrühmlichen Abenteuer auf dem Turm hatten sie das Filmmuseum verlassen und beschlossen, den Rest des Tages ohne Mutproben zu verbringen. Er hatte ihr gefühlte hundert Mal versichern müssen, dass er sich schon viel besser fühlte und, dass er nicht im nächsten Augenblick wieder zusammenklappen würde und, dass es nicht notwendig war, ihn nach Hause zu bringen und ins Bett zu stecken. So ein Schwindelanfall in schwindelnder Höhe, das konnte jedem passieren. Jitka schien anfangs nicht völlig überzeugt, nach und nach hatte sie sich jedoch umstimmen lassen, und wirkte ebenfalls erleichtert, dass alles gut ausgegangen war. Sie hatten unterwegs im Supermarkt Nektarinen und Kekse gekauft und es sich dann auf der Wiese vor einem Denkmal gemütlich gemacht. Nun lagen sie im Gras, Jitka hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Den Blick zum den Himmel gerichtet beobachteten sie, wie sich über ihnen dramatische Wolkengebilde auftürmten und immer dunkler färbten.

"Irgendwie passt das zusammen", überlegte Erik. "In Sylvies Reiseführer steht, dass unter diesem Denkmal hier das Tor zur Hölle liegen soll."

"Was dort nicht alles drinsteht", gab Jitka leich amüsiert zurück. "Dann sind wir hier wohl gerade richtig. Und der Engel dort oben, soll der die höllischen Mächte neutralisieren?" Sie zeigte auf die Statue eines geflügelten Jünglings, der über den pyramidenförmig aufgeschichteten Steinblöcken zu schweben schien.

"Das ist ein geflügelter Genius", sagte er und mimte dabei scherzhaft einen oberlehrerhaften Tonfall. Gleichzeitig wunderte er sich darüber, dass er sich so etwas überhaupt merkte. Aber irgendwie hatte ihn dieses Denkmal interessiert. Vielleicht wegen dieser Geschichte mit dem Tor zur Hölle, man mochte davon halten, was man wollte ...

"Manche meinen natürlich das wäre Luzifer", fuhr er fort, seine angelesenen Weisheiten zum Besten zu geben. „Wenn ich mich richtig erinnere, haben damals die Römer genau hier ihre Verbrecher hingerichtet."

"Romantisches Plätzchen, das wir uns da ausgesucht haben", sagte Jíka und Erik grinste.

"Es ist der westlichste Teil der Stadt - also, das war es, zur Römerzeit, weil da hörte die Stadt genau hier auf. Wo die Sonne untergeht und die Dämmerung anfängt ..." Der Gedanke gefiel ihm, er ließ in seinem Kopf Töne entstehen und sich zu einer Melodie zusammenfügen. Später würde er sie vielleicht wieder vergessen haben, aber im Moment war sei einfach da und das war schön.

"Und was ist das mit diesen gefallenen Engeln?" Erik drehte den Kopf ein wenig, um besser sehen zu können, was sie meinte. Die aus unförmigen Steinblöcken bestehende Pyramide stand in einem weiten Wasserbecken, an der Spitze schwebte der geflügelte Genius oder eben Luzifer mit einem fünfzackigen Stern über dem Kopf. Entlang der Steinblöcke ließen sich weitere Figuren erkennen. Einige schienen hinaufklettern zu wollen, andere sahen aus, als stürzten sie gerade hinab. Der Gedanke an gefallene Engel lag nahe.

"Das Denkmal soll eigentlich an den Bau des Frejus Tunnels erinnern, also der geht hier irgendwo durch die Alpen hinüber nach Frankreich, und die Steinblöcke hier stammen alle aus diesem Tunnel. Die offizielle Version sagt, das Denkmal zeigt den Triumph der Vernunft, also das ist der Genius, gegen die rohe Naturgewalt, das sind diese anderen Figuren, demnach Titanen. Andere meinen wiederum, sie stehen für all die Arbeiter, die beim Tunnelbau ums Leben kamen." Er spürte, wie Jitka leicht die Schultern anzog.

"Irgendwie wird das nicht sympatischer, oder? Vielleicht sollten wir nächstes Mal woanders hingehen. Ich habe irgendwo gelesen, dass Esoteriker behaupten, in Turin gäbe es Orte der weißen und der schwarzen Magie. Dann sind wir jetzt wohl bei den Schwarzmagiern."

"Bei den Weißmagiern waren wir vorhin", erwiderte Erik. "Der Turm, der bis zum Himmel geht, steht für die weiße Magie."

Jitka drehte ihm den Kopf zu, sodass sie einander in die Augen schauen konnten.

"Das erklärt einiges", sagte sie. "Bei der weißen Magie kippst du aus den Latschen und bei der Schwarzen hältst du mir muntere Vorträge über Kunst und Kultur. Wetten, du tust nur so harmlos? Da schmachtest du dich durch die Mondschein-Sonate und machst einen auf Schwiegersohn, aber in echt ... huh!" Plötzlich saß sie kerzengerade vor ihm und griff sich an die Stirn.

"Das war der erste fette Regentropfen, ich glaube dein schwarzmagischer Wiesenfleck wird langsam ungemütlich."

Im selben Moment spürte auch Erik die ersten Tropfen im Gesicht. Als er sich hastig aufrichtete, wurde er daran erinnert, dass er anscheinend noch nicht ganz so fit war, wie er sich einreden hatte wollen. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen und ihm war leicht schwummrig zumute. Es war jedoch nur ein kurzer Moment, und den konnte er ganz gut überspielen. Er verharrte noch ein wenig in seiner kauernden Haltung, wobei es ihm gelang, Zeit zu schinden, indem er die Packung mit den restlichen Keksen, sowie den Plastikbeutel mit den Nektarinen in seinem Rucksack verstaute, dann ging es auch schon wieder. Er stand etwas vorsichtiger auf und Jitka hatte nichts bemerkt.

Hatten Sie bisher nur vereinzelte, schwere Tropfen gespürt, so wurde der Regen nun dichter, bald lief ihm das Wasser über die Haare ins Gesicht und in den Kragen. Jiti lachte und stand mit ausgebreiteten Armen vor ihm auf der Wiese und reckte ihr Gesicht zum Himmel.

"Ich liebe so einen Sommerregen!", rief sie und drehte sich im Kreis. Erik nickte nur, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, während er den Duft der regennassen Luft einatmete. Die Tropfen fielen ihm aufs Gesicht und es fühlte sich gut an. Das machte das Leben aus, dachte er. Diese Momente, die plötzlich da waren, und die man nicht planen konnte. Ehe er dazukam weitere Gedanken zu spinnen, spürte er wie Jitkas Hände nach seinen griffen und sie ihn an sich zog. Er strich ihr die nassen Haare aus dem Gesicht und versuchte sich das Trommeln des Regens einzuprägen, das Plätschern in dem Wasserbecken, von dem das Monument neben ihnen umgeben war, das Quietschen der Autoreifen auf der nassen Straße. Für einen Moment war es, als ob die Welt still stand.

Ein Weilchen darauf standen beide durchnässt in einer Bar und bestellten heißen Kaffee. Sie lehnten sich an einen Stehtisch am Fenster, grinsten einander an, blickten einander in die Augen, sagten nicht viel und waren glücklich und zufrieden. Als sich in ihren Tassen nichts mehr befand und sie in den nassen Kleidern zu frösteln begannen, drang das leise Klingeln an sein Ohr, das ihm verriet, dass ihm jemand ihm eine Nachricht geschickt hatte. Beinahe im gleichen Augenblick piepste es auch bei Jitka. Die beiden sahen einander an und begannen in ihren Taschen zu kramen. Die Nachricht war von Sylvie: "Ich übernachte bei Karina. Im Kühlschrank ist noch Gemüse, das muss weg. Küsschen, Sylvie." Jitka schien eine ähnliche Mitteilung von Karina erhalten zu haben.

"Da bleibt uns nur eines", sagte Erik. "Kommst du mit zu mir? Wir müssen schließlich das Gemüse aufessen."

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt