75. Kapitel - Adventkalender und Julehjerter

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„Sylvie, gut, dass ich dich noch erwische", sagte ihre Mutter am Telefon. „Sei so gut und besorg uns noch ein oder zwei Packungen Buntpapier. Stell dir vor. Erik hat heute die Schachtel mit dem Baumschmuck vom Dachboden geholt und die Weihnachtsherzen, die ihr zwei damals zusammen gebastelt habt, waren alle verschimmelt. Er war ziemlich betrübt, das kannst du dir vorstellen." Sylvie schüttelte den Kopf. „Die waren aus Papier, das hält eben nicht ewig. Die waren schon mindestens zwanzig Jahre alt, wenn nicht noch älter."

Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Erik so an diesen windschiefen, selbstgefalteten Herzen hing. Sie konnte sich noch erinnern, damals hatte sie sich viel zu alt gefühlt, um die obligatorischen Julehjerter zu flechten, also die Weihnachtsherzen, aber Erik war noch recht klein gewesen und ihre Mutter hatte sie überredet mit ihm zu basteln.

„Er und die Jungs haben beschlossen Neue zu machen, vielleicht willst du ja auch ein paar falten. Wir haben schon ein paar hübsche Schablonen aus dem Internet ausgedruckt."

„Damals haben wir die Schablonen noch aus dem Bastelbuch abgepaust", sagte sie etwas missmutig.

„Frau Tochter, du klingst wie deine eigene Urgroßmutter", wurde sie daraufhin zurechtgewiesen.

„Ich weiß", antwortete Sylvie unbeeindruckt und sie beendeten das Gespräch. Sie schob den Einkaufswagen zwischen den Regalen des großen Supermarkts weiter und packte unterwegs gewissenhaft die Dinge hinein, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte. Unterwegs hielt sie nach Alexander Ausschau, den sie während des Telefonierens aus den Augen verloren hatte. Es war der Tag vor Heiligabend und sie beide waren losgezogen, um die letzten Einkäufe für die Feiertage zu erledigen, und um den Tannenbaum zu besorgen. Sylvie fand das reichlich spät, aber ihre Mutter hatte ihr erklärt, das hätten sie doch immer so gemacht. Daran konnte Sylvie sich allerdings nicht erinnern.

Sie entdeckte Alexander schließlich an der Wursttheke, wo er sich von einer errötenden Verkäuferin bezüglich der weihnachtlichen Spezialitäten beraten ließ. Mit seinen bald sechzig Jahren war er immer noch eine beeindruckende Erscheinung, er schien sogar zu den Männern zu gehören, die mit dem Alter attraktiver wurden. Sylvie hatte Fotos von ihm in jüngeren Jahren gesehen, die waren recht enttäuschend gewesen. Er war sehr groß, früher blond mittlerweile ergraut, und hatte einen verwegenen Blick drauf, der so mancher Verkäuferin in diesem Supermarkt wohl etwas Aufregung in ihren grauen Arbeitsalltag gebracht hatte, und ihm offenbar äußerst zuvorkommende Bedienung. Was vermutlich nicht zu verachten war, an einem Tag, an dem alle in die Geschäfte stürmten, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor. Sie konnten sich da selbst wohl auch nicht ausnehmen.

Anfangs, hatte Sylvie Alexander zutiefst misstraut. Nicht, dass sie ihrer Mutter keinen attraktiven Mann gönnte, darum ging es ja nicht, aber wenn sie sich schon einbildete, nach all den Jahren wieder heiraten zu müssen, dann sollte der Auserwählte bitteschön nicht so ein Hallodri sein, der sich, wenn ihm nicht mehr danach war, gleich wieder vom Acker machte. Und bei Alexanders Vorgeschichte hatte sie den nicht unbegründeten Verdacht gehabt, dass es sich bei ihm um genau um so einen Hallodri handeln könnte. Es hatte sich herausgestellt, dass er zwar gern flirtete und herumscherzte, allerdings auf seine alten Tage doch eher an geordneten Verhältnissen interessiert war. Anscheinend hatte auch speziell seine vorhergehende Ehe in ihm das Bedürfnis danach geweckt. Vibeke, die Mutter der Zwillinge war anscheinend vor allem daran interessiert gewesen, solange ihre biologische Uhr es zuließ, Kinder zu bekommen, und hatte dann ziemlich bald einen Jüngeren gefunden. Vibeke und Martin würden morgen am Weihnachtsabend natürlich auch da sein. Die Kinder sollten ja mit beiden Eltern feiern.

Sylvie betrachtete diesen Menschenauflauf am Weihnachtsabend mit gemischten Gefühlen. Als Kind hatte sie sich immer gewünscht, in einer so großen Familie zu feiern, aber jetzt hätte es ihr gereicht, einfach nur Mama und Erik dabeizuhaben. Vielleicht war ihr Hauptproblem, dass sie Vibeke und Martin nicht leiden konnte. Zumindest konnte sie sich bei einer so großen Gruppe von Menschen leichter nach einer Weile mit Erik in ein anderes Zimmer zurückziehen, ohne sich das dumme Gequatsche der Anderen anhören zu müssen. Letztes Jahr hatten sie es genauso gemacht.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt