52. Kapitel

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Sylvie wirkte ziemlich erledigt, als sie sich nach der Probe auf den Sessel fallen ließ und mit zittrigen Fingern eine Flasche Mineralwasser öffnete. Sie nahm ein paar große Schlucke und sagte nichts, dann sah sie Karina kurz an. Ihr Gesicht war so anders. Alle Anspannung schien aus ihren Zügen gewichen. Als sie fragte, ob sie nicht etwas essen gehen wollten, klang ihre Stimme  fast wie damals in Turin. Obwohl Sylvie erschöpft war, schwand da wieder diese Unternehmungslust mit, die Karina bei Sylvie, seit sie hier in Prag war, ein wenig vermisst hatte.

"Wie hat es sich angefühlt?", fragte Karina, während sie Arm in Arm die Treppe hinunter schlenderten. Sylvie zu fragen, wie sich etwas anfühlte, wäre ihr in den letzten Tagen absolut vergeblich vorgekommen, zumindest, wenn dabei auch eine vernünftige Antwort zurückkommen sollte. Doch nun lächelte Sylvie und nickte.

"Ja, sehr gut", sagte sie schließlich. Einen Moment lang sagte sie nichts, so als überlegte sie. "Es war ein Erlebnis, wieder mit Orchester zu spielen", setzte sie dann fort. Dieser gepresste, irgendwie defensive Klang war aus ihrer Stimme gewichen. Auch in ihrer Körperhaltung wirkte sie gelöster. Zuletzt hatte sie oft so gewirkt, als sei sie jederzeit zum Sprung bereit. Um einen giftig anzuspringen oder um davonzuspringen und die Flucht zu ergreifen. Es war, als hätte sie irgendwelchen aufgestauten Energien, oder vielleicht Emotionen während der Probe Luft gemacht. Ein Ventil aufgemacht und den ganzen Druck und den Dampf abgelassen. Sie war gewiss nicht die Erste, der es so ging. Karina wusste, dass Sylvie während all der Zeit die befreiende Wirkung der Musik geschätzt hatte. Dass auch sie das kannte, wenn man sein Instrument zu spielte und alles um sich herum vergaß. Aber es war noch einmal etwas anderes vor dem Orchester zu stehen.

"Wie war es für dich?", drehte Sylvie die Frage um. "Bist du immer noch der Meinung, dass du dich mit mir vor einem Publikum zeigen kannst?"

Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Karinas Gesicht aus. "Ja, ja und dreimal ja!", rief sie überschwänglich. "Ich bin dir gegenüber gewiss voreingenommen und kann bestimmt nicht neutral beurteilen, wie gut du wirklich bist. Aber mit dir zu musizieren, das hat meine Erwartungen übertroffen. Ehrlich jetzt!", schwärmte sie und bemühte sich gar nicht erst um professionelle Distanz. Wie auch? Sollte sie nach dem Konzert mit Sylvie tot umfallen, was hoffentlich nicht geschah, so wäre dies zumindest im glücklichsten Moment ihres Lebens geschehen.

"Pass auf, sonst werde ich noch eingebildet", gab Sylvie grinsend zurück.

"Ach, bist du das noch nicht?", neckte Karina sie. Natürlich wusste Sylvie, dass sie gut war. Das war vermutlich ein Teil ihres Geheimnisses. Sie konnte sich auf ihr Können verlassen und das wusste sie, deshalb war sie auch fähig sich auf der Bühne vollkommen fallen zu lassen.

Sie spazierten die Straße entlang und wirbelten dabei mit den Füßen das trockene Laub auf, das überall herumlag und noch nicht aufgekehrt worden war. Es war nicht weit bis zu dem Lokal, das Karina ansteuerte. Es war gemütlich, das Essen sehr gut und reichlich. Hier waren sie schon nach so manchem Konzert mit Bärenhunger eingefallen. Man kannte sie hier und sie bekamen, den begehrten Tisch in der hinteren Ecke neben dem Kamin. Hier passte nichts zusammen, weder Tische, noch Sessel waren einheitlich und schon gar nicht das Geschirr. Sie bestellten eine Flasche Wasser und jeweils ein großes Bier, während sie ihre Unterhaltung fortsetzten.

"Und ich finde, du hast dich merklich weiterentwickelt", setzte Karina ihre Lobeshymnen fort. "Damals mit den St. Petersburger Philharmonikern klangst du noch verhaltener ... was die Emotionen angeht, weißt du?" Es war natürlich, als vergliche man Äpfel mit Birnen. Heute war Sylvie unmittelbar vor ihr gestanden und den Auftritt mit den St. Petersburger Philhamonikern kannte sie nur durch die Aufnahme. Aber der Unterschied war nur allzu deutlich gewesen, wie Karina fand. "Du warst damals natürlich schon technisch und musikalisch brillant, aber heute hast du mit viel mehr Gefühl gespielt. Ich hoffe, du machst das beim Konzert auch so."

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt