Nach dem Essen schlug Karina vor, Sylvies Sachen aus der Wohnung zu holen. Es sah es nicht so aus, als würde sie jemals dort übernachten und sie wussten anhand der Nachrichten, die Sylvie die ganze Zeit über mit ihrem Bruder hin und her geschickt hatte, dass die beiden Anderen gerade in einem von Jitkas Lieblingslokalen beim Abendessen saßen. Insofern fand sie die Gelegenheit günstig. Wenn sie jetzt hinfuhren, würde Sylvie Jitka und Erik nicht über den Weg laufen, was im Moment wohl das Beste war. Auch wenn Karina es vorzog diese Überlegung Sylvie gegenüber nicht zu erwähnen. Sie konnten einander ohnehin nicht die ganze Zeit über aus dem Weg gehen. Und Sylvie generell von Erik fernzuhalten war bestimmt auch nicht die klügste Idee. Aber momentan war es besser, wenn die Gemüter ein wenig Zeit hatten, sich zu beruhigen und abzukühlen. Zumindest bis morgen Abend, dann da würden sie alle zusammen in die Oper gehen und einander hoffentlich einigermaßen gesittet begegnen.
Sie saßen wieder in der Straßenbahn und blickten aus dem Fenster, als Sylvie, wie immer, wenn einmal fünf Minuten nichts anderes zu tun war, wie automatisch in ihrer Tasche nach dem Telefon kramte. Karina legte eine Hand auf ihren Arm: „Wetten, du schaffst es nicht, Erik keine Nachricht zu schicken bis wir in der Wohnung sind? Und bis dahin nicht dein Telefon zu kontrollieren?", fragte sie. Sylvie blickte auf. „Natürlich schaffe ich das. Aber warum sollte ich das wollen?", fragte sie. Karina zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung." Manche Antworten durfte Sylvie sich gerne selbst geben.
„Eben", antwortete diese und fuhr fort ihre Nachricht einzutippen. Doch kurz darauf schien sie ihre Meinung geändert zu haben.
„Gut", sagte sie. „Ich lösch das jetzt weg, tu das Handy in die Tasche und da bleibt es jetzt. Zufrieden?"
Karina lächelte nur, und klopfte sich innerlich dafür auf die Schulter, dass die Strategie zumindest für den Moment zu funktionieren schien. Es war nicht so, dass Sylvie gegen sämtliche Argumente immun war. Im Gegenteil. Sie wusste schon, dass das was sie tat, für niemanden besonders gesund war. Man musste sie nur hie und da dezent darauf stoßen.
Während Sylvie im Schlafzimmer ihr Zeug in den Koffer räumte, setzte sich Karina in die Küche und rief Jitka an, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Vermutlich war nun sie diejenige, die die beiden bei ihrer romantischen Abendunterhaltung störte, aber das mussten sie sich eben gefallen lassen.
"Karina, nein, das willst du echt nicht wissen!", antwortete Jitka auf die Frage, ob sie ihr denn berichten könne, was da heute in der Früh zwischen Sylvie und Erik gelaufen sei.
„Hat dir deine holde Sylvie das nicht erzählt? Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie das nicht tun will." Auf diese sarkastische Bemerkung konnte Karina nur mit einem ärgerlichen Schnauben antworten.
„Nur so viel", sagte Jitka. „Überleg dir das nochmal mit Sylvie. Und dann lauf so schnell du kannst."
"Kannst du vergessen. Dazu ist es zu spät", erwiderte sie trocken. Jitkas Einschätzung was Sylvie betraf, hatte sich durch den mysteriösen Vorfall heute Morgen anscheinend kaum verbessert. Karinas Vermutung, dass Sylvie sich ziemlich daneben benommen hatte, erhärtete sich jedenfalls. Allerdings war sie durchaus der Meinung, dass Jitka alles hoffnungslos dramatisierte.
"Wir sind hier jetzt mitten in der Altstadt, das muss ich dir alles irgendwann erzählen, wenn nicht halb Prag und sämtliche Touristen zuhören."
"Du machst das aber spannend."
"Glaub mir, das ist es nicht. Warum vergisst du die Sache nicht einfach?" Karina wollte gerade zu einem leidenschaftlichen Protest ansetzen, als Jitka schon das Thema wechselte. „ Du, Karina. Was anderes jetzt: Glaubst du, wir können mal in den Konzertsaal? Erik und ich? Er hat dieses Stück geschrieben, für uns beide und wir wollen das gerne aufnehmen. Da wäre der Saal wunderbar geeignet, meinst du nicht auch? Wir bräuchten vielleicht ein paar Kabel, aber Mikrophone, Software und was sonst so notwendig ist, hat Erik alles mit. Dauert auch bestimmt nicht lange."
Karina warf einen Blick hinüber zum Klavier, wo immer noch die Noten standen und sie lächelte.
"Und ob ihr das könnt. Für sowas muss immer Gelegenheit sein. Übermorgen probst du am Vormittag mit Sylvie, danach ist soviel ich weiß niemand eingebucht, das heißt wir können überziehen. Meinst du, ihr seid bis dahin so weit?"
"Oh ja, Karina, du bist ein Schatz." Es war, als sehe sie Jitkas strahlendes Lächeln vor sich, als sie das sagte.
"Aber ich will zuhören, ja? Ich kann dir gar nicht sagen, wie neugierig ich auf dieses Stück bin!"
"Klar, damit haben wir fix gerechnet." Bevor sie auflegten, folgte noch eine Lobeshymne auf Erik, wie tiefgründig, talentiert und kreativ er nicht war. Und das wollte Karina auch gerne alles gelten lassen. Was Sylvie betraf, so würde sie schon noch herausfinden, was diese so Schlimmes gesagt haben konnte.
Nun fühlte Karina sich magisch angezogen von den Noten, die immer noch auf dem Klavierpult standen und beschloss, die Zeit bis Sylvie fertig eingepackt hatte zu nutzen, um sich diese ein wenig genauer anzusehen. Sie setzte sich ans Klavier, nahm sich die Blätter her und begann einige Stellen, die ihr besonders interessant vorkamen anzuspielen. Sie merkte allerdings bald, dass die Finessen des Stücks wohl erst vollends zur Geltung kamen, wenn es tatsächlich von vier Händen gespielt wurde.
Sie versuchte mit der rechten Hand so gut es ging den Hauptpart des oberen Systems und mit der linken die Essenz des unteren Systems einzufangen, gab es aber ziemlich bald auf. Mit zwei Händen war dem Stück einfach nicht beizukommen und so vertiefte sie sich in die Noten und versuchte, sich den Klang so gut sie konnte vorzustellen. Es lebte davon, dass einer immer wieder Impulse des Anderen übernahm, weiterspielte und sie dann zurückgab. Es erforderte zwei Spieler, die vollends miteinander im Einklang waren. Und für zwei solche Menschen war es schließlich geschrieben worden.
Erik hatte jedenfalls nicht an kniffligen Stellen und technischen Herausforderungen gespart. Wer eine Pianistin von Jitkas Format mit Eigenkompositionen beeindrucken wollte, der musste wohl tiefer in die Trickkiste greifen, dachte Karina. Obwohl Jitka bestimmt von allem, was Erik für sie geschrieben hätte, entzückt gewesen wäre. Mit diesem Werk hier musste er sich nicht verstecken, fand Karina. Es war deutlich, dass er sehr genau wusste, was er hier tat. Er musste während des Studiums bereits Kompositionsklassen besucht haben, denn er beherrschte Techniken, die sich einem gewiss nicht instinktiv erschlossen. Unwillkürlich fragte sich Karina, was er wohl noch alles in seinen Schubladen herumliegen hatte.
Sylvie hatte soeben die letzten Sachen aus dem Bad geholt, und blickte ihr nun neugierig über die Schulter.
„Und?", fragte sie. „Hat das Werk meines Brüderchens vor deinen strengen Augen und Ohren Bestand?"
Karina wandte sich ihr zu. „Vor meinen Augen auf jeden Fall. Dein Brüderchen kann was. Und vor meinen Ohren? Ich kann es nicht erwarten, es zu hören. Von den vermutlich einzigen beiden Pianisten, die das hier mit jeglichen Feinheiten wiedergeben können. Wenn es so läuft, wie die zwei sich das vorstellen, dann kriegen wir es schon übermorgen zu hören. Und diesmal nicht nur durch die geschlossene Tür." Sylvie zog die Augenbrauen hoch, ihr Gesichtsausdruck wirkte zufrieden. Und auch ziemlich stolz.
![](https://img.wattpad.com/cover/146250105-288-k858850.jpg)
DU LIEST GERADE
Das Schicksal spielt in Dur und Moll
General FictionManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...