29. Kapitel

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Sylvie stieg im dritten Stock aus, steuerte direkt das Büro des Chefredakteurs Jesper Madsen an und wurde auch prompt durchgewunken, was sie einigermaßen ungewöhnlich fand. Jesper saß telefonierend hinter seinem Schreibtisch, in dem vollgestopften Zimmer, das vermutlich kleiner wirkte, als es in Wirklichkeit war.

„Du musst unbedingt noch einmal die Bilderrechte von der Pfandflaschengeschichte überprüfen, das kann so nicht ... ja, mach das. Aber flott!" Er legte auf und schaute Sylvie freundlich an. Sie kannte ihn, seit sie hier arbeitete. Damals saß er noch im Wirtschaftsresort und sie hatten die eine oder die andere Geschichte zusammen recherchiert. Nach einigen Jahren war er zum Chefredakteur aufgestiegen, und ihr Verhältnis war nach wie vor gut und kollegial. Sylvie war der Meinung, dass er ihre Arbeit schätzte und wusste, was er an ihr hatte.

"Schön, dass du wieder hier bist", begrüßte er sie. "Komm' setz dich. Willst du einen Kaffee?" Sie nickte und er drückte zwei Tassen aus der Kaffeemaschine herunter, die in einer Ecke des Raumes zwischen Aktenordnern und gestapelten Magazinen stand, und zwar recht flott aussah, aber nicht zu luxuriös. Es sollte niemand auf die Idee kommen, dass er als Chefredakteur eine bessere Kaffeemaschine brauchte, als die restlichen Abteilungen. Der Kaffee, den das Ding ausspuckte entsprach jedenfalls vollständig Sylvies Vorstellungen. Sie roch an ihrer Tasse und nippte vorsichtig an dem heißen Getränk, während sie darauf wartete, dass Jesper auf den Punkt kam. Er kramte auf seinem Schreibtisch herum, schob Papierstapel von einer Seite auf die andere, so, als suchte er etwas und fand es schließlich auch. Ein unspektakulär aussehendes Briefkuvert. Sylvie lehnte sich etwas vor, um zu erspähen, worum es sich handelte. Langsam wurde sie nun doch neugierig, was das hier zu bedeuten hatte.

"Danke für deine Berichte und Analysen, wie immer kompetent, aufschlussreich und auf den Punkt ... im Endeffekt haben wir leider einiges zusammenkürzen müssen, da in den letzten Tagen das öffentliche Interesse an der Sache versiegt ist. Aber du weißt ja, wie das ist ..." Sylvie nickte und versuchte dabei, ausnahmsweise, keine Grimasse zu ziehen. Natürlich wusste sie das. Sobald ein Thema nicht mehr ganz oben in den Schlagzeilen war, wandte man sich der nächsten brennenden Story zu. Wenn Fäden in der Luft hingen, oder die Hälfte der Fragen noch offen stand, kümmerte das so schnell keinen mehr, da sich nach einigen Wochen ohnehin kaum noch jemand an Details erinnerte. Mit etwas Glück bekam man einmal eine Marginalspalte um eventuelle neue Entwicklungen kurz anzureißen. Wer brauchte schon Zusammenhänge?

"Was deine Reportagen betrifft, so denke ich, dass wir auch die demnächst unterbringen können. Zumindest teilweise. Letzte Woche hat uns eine Beschwerde erreicht. Von einem gewissen Semjon Wassiljewitsch Soloschenko. Der Name sagt dir was, nicht wahr?" Jesper nahm die Brille ab und sah sie forschend an.

"Allerdings," erwiderte Sylvie erstaunt. "Das ist einer der Bauunternehmer, die ich für die Wirtschaftsreportage befragt habe. Was will er?"

"Er hat sich beklagt, du hättest ihm erstens eine Reihe absolut inakzeptabler und unbotmäßiger Fragen gestellt. Zweitens hättest du ihm nicht gewährt, später in das Interview Einblick zu nehmen."

"Natürlich nicht", gab Sylvie kopfschüttelnd zurück. Was sollte das jetzt? Sie hatte diese Episode schon fast wieder ausgeblendet. "Das ist völlig absurd. Er wollte das Interview quasi redigieren und absegnen. Ich habe ihm gesagt, dass das so nicht geht. So arbeiten wir nicht, das haben wir noch nie getan. Das hast du ihm doch hoffentlich auch gesagt. Abgesehen davon habe ich ihm nur Fragen gestellt, von denen ich glaube, dass sie unsere Leser interessieren. Ich habe gewiss nicht mutwillig zu provozieren versucht. Du kennst mich."

"Davon bin ich überzeugt," sagte Jesper. "Und natürlich lassen wir uns keine Interviews absegnen. Andrerseits ist es keine gute Idee es sich mit einem der reichsten Männer Russlands zu verscherzen, der offensichtlich auch zu den Mächtigeren zählt. Und auch, wenn es nicht in deiner Absicht lag, er hat sich anscheinend ausreichend provoziert gefühlt." Er wedelte noch etwas heftiger mit dem Briefkuvert.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt