Erik schreckte aus dem Schlaf, nur um im nächsten Augenblick erleichtert festzustellen, dass er hier auf seiner Matratze in der Schlafnische lag, Jitka schlief neben ihm. Er stand nicht ahnungslos im bis auf den letzten Platz gefüllten Konzertsaal, wo die Orchestermusiker hinter seinem Rücken tuschelten und die Leute im Publikum kurz davor standen, ihr Geld zurückzuverlangen.
Er schloss die Augen und versuchte, einfach nur Jitkas ruhigen Atemzügen zu lauschen. Vielleicht konnte er noch einmal eindösen, bevor der Wecker klingelte. Diese Träume kamen immer, wenn wieder einmal ein Auftritt anstand. Er war daran gewöhnt und vermutlich gehörte das einfach dazu. Er hatte sie schon fast vergessen gehabt.
In der heutigen Variante hatte man ihm mitgeteilt, er solle doch Beethovens Schlüsselblumen-Sonate spielen. Er hatte versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass er noch nie von einer solchen Sonate gehört hatte. Dabei sei diese, wie jedes Kleinkind wisse, Beethovens allerberühmteste Sonate, die für einen Pianisten wie ihn, ein unerlässlicher Bestandteil des Repertoirs sei. Beim Aufwachen schien ihm dieser Unsinn geradezu lächerlich. Natürlich hatte Beethoven nie eine Schlüsselblumen-Sonate geschrieben, aber in seinen Träumen gab es oft irgendeinen weltberühmten Klassiker und er war offenbar jedes Mal der Einzige, der davon noch nie gehört hatte. Natürlich gab es noch andere Horrorszenarien. Blackouts, verkrampfte Finger, jede Art von Patzern, Handwerker, die während er spielte, lautstark hämmernd auf der Bühne herumbastelten, das Klavier war komplett verstimmt, oder es löste sich in seine einzelnen Bestandteile auf. In letzter Zeit hatte er auch immer wieder die Variante, in der er beim Weg auf die Bühne stolperte, oder mitten im Konzert ohnmächtig vom Stuhl kippte.
Er versuchte an etwas anderes zu denken. An gestern Abend, an das Gewitter, an Jitkas Lachen. An die langen Gespräche und daran wie ihre Hände sich auf seiner Haut anfühlten. An ihre direkte Art, dass sie alles mögliche fragte, ohne herumzueiern, wie andere das taten. Und daran, dass er er kaum erwarten konnte mit ihr zusammen Klavier zu spielen.
Aber dann kehrten seine Gedanken wieder zu dem Konzert zurück und zu der heutigen Probe. Hatte er eigentlich alle Noten beisammen? So sehr er sich bemühte, wollte es ihm nicht gelingen noch einmal ruhig zu werden, oder gar einzuschlafen. Er tastete nach seinem Telefon und schaute auf die Uhr. Es war sieben, in einer halben Stunde würde ohnehin der Wecker losgehen. Er betrachtete Jitka noch einmal für einen langen Augenblick, wie sie ruhig schlief, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Er durfte sie nicht wecken.
So lautlos, wie er konnte, kletterte er die Leiter hinunter, ging in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Er befüllte die italienische Espressokanne, mittlerweile hatte er gelernt, wie das funktionierte und er mochte diese etwas umständliche Art den Kaffee zuzubereiten. Das hatte etwas Meditatives am Morgen, die Hände waren in Bewegung, während er in Ruhe seinen Gedanken nachhängen konnte. Seit sie hier waren, hatte er jeden Morgen den Kaffee gemacht. Sylvie wurde immer ungeduldig, wenn sie nicht auf Knopfdruck ihren Espresso hatte.
Als die Kanne auf dem Herd stand machte er sich daran das restliche Frühstück zu improvisieren. Viel war nicht mehr da, er fand er etwas Toastbrot, Butter und Marmelade. Und die Kekse und Nektarinen, die sie gestern gekauft hatte mussten auch noch irgendwo sein. Nun ja, dann würden sie zumindest irgendwas haben, das man Frühstück nennen konnte.
Nachdem er alles vorbereitet hatte, schnappte er sich die Konzertmappe, und begann noch einmal seine Noten zu überprüfen. Er breitete sie auf dem Boden aus, und ging jede einzelne Seite noch einmal durch. Es gab nichts Unangenehmeres, als mitten während der Probe zu entdecken, dass eine Seite fehlte, oder dass man die Noten falsch zusammengeklebt hatte. Er war fast damit durch, als sich die Küchentür öffnete und Jitka barfuß hereinspazierte. Einen Moment lang schaute sie ihn verwundert an, dann hockte sie sich zu ihm auf den Boden und küsste ihn zur Begrüßung.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
General FictionManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...