32. Kapitel

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Jitka stieg auf der Brücke der Legionen aus der Straßenbahn, und wurde an der Haltestelle schon von Karina erwartet. Sie hatten durch Zufall entdeckt, dass sie heute Nachmittag beide ein paar freie Stunden hatten und sich zu einem spontanen Treffen verabredet. Später musste Karina weiter zu einem Auftritt mit dem Jugendorchester und Jitka hatte noch Probe für eine Veranstaltung, die am Wochenende stattfinden sollte. Bei so unterschiedlichen Terminplänen war es nicht immer leicht, sich etwas auszumachen. Meist klappte es spontan am besten. Sie begrüßten einander mit zwei Küsschen, links und rechts, und schlenderten dann über die Treppe hinunter auf die kleine von Büschen und Bäumen bewachsene Moldauinsel.

"Man könnte glauben meine Teenies hätten über die Sommerferien alles vergessen," stöhnte Karina. "Das war heute richtig mühsam. Gut, dass am Abend nur die Älteren aus dem Kammerorchester spielen, sonst sähen wir echt traurig aus."

"Ach was," sagte Jitka. "Ist das nicht immer so? In einer Woche spielen die, als hätten sie nie Ferien gehabt. Komm' ich brauch erst mal einen Kaffee." Da konnte Karina ihr nur beipflichten und so spazierten sie entlang des Weges, an das Ende der Insel, wo ein Verkaufswagen stand, an dem man Kaffee und Zwetschkenkuchen erstehen konnte. Sie versorgten sich und trugen ihre Teller und Tassen zu einem der kleinen Tische. Von hier aus ließ sich, wenn man zwischen den Büschen durchschaute im Hintergrund die Karlsbrücke erkennen. Aus der Entfernung wirkte sie erstaunlich idyllisch, wenn man die ganzen Touristen nicht sah, die sich vermutlich gerade kolonnenweise in der Septembersonne darüber hinweg wälzten.

"Was gibt's bei dir Neues?", fragte Karina, während sie sich betont darauf konzentrierte mit der Gabel eine Zwetschke aufzuspießen. Ein Manöver, um den Blick abzuwenden, und Jitka nicht sofort wissen zu lassen, welche Frage ihr eigentlich auf den Lippen brannte. Jitka kannte ihre Freundin gut genug, um sie zu durchschauen.

"Kannst du dich an diesen Italiener erinnern, der mich in Turin nach dem Konzert angesprochen hat?", fragte Jitka und schnitt ganz bewusst nicht das Thema an, auf das Karina vermutlich spekuliert hatte.

"Dieser Konzertveranstalter?"

"Genau. Der hat sich jetzt noch einmal gemeldet. Vielleicht soll ich bei einer Konzertreihe nächsten Herbst mitmachen. Schön langsam ergibt sich das Eine oder Andere."

"Das klingt gut. Und die Aufnahmen, die du im Frühling in Moskau eingespielt hast, müssten doch auch bald erscheinen."

"Die sollen wohl rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft herauskommen", antwortete Jitka. Es fühlte sich noch immer irgendwie unwirklich an. Im letzten Jahr war so viel passiert und weitergegangen. Und das obwohl sie durch den Agentenstreit zwischendurch das Gefühl gehabt hatte, sich im Kreis zu drehen und still zu stehen. Bei allem, was passiert war, schien sie jedes Mal mehr Glück, als Verstand gehabt zu haben. Das Können war zwar wichtig, doch sie wusste, dass es am Ende auch darauf ganz stark ankam. Auf das Glück. Und das war unberechenbar.

"In der Agentensache solltest du dir echt noch was einfallen lassen. Hast du dir die Liste, die ich dir zusammengeschrieben habe schon angeschaut?"

Jitka nickte. Karina hatte sich umgehört und ein wenig Brainstorming betrieben und ihr dann einige Agenturen aufgeschrieben, von denen sie glaubte, dass die ganz vernünftig und seriös waren. Nicht die ganz Großen. Der Plan war es, jemanden zu finden, der sie langsam und langfristig voranbringen konnte. Sodass sie sich in ihrem eigenen Tempo weiterentwickeln und ihre eigenen Entscheidungen treffen konnte, ohne dabei verheizt zu werden. Sie wusste ja selbst, dass sie komplett ahnungslos war, was die geschäftlichen Dinge anging. Gagen und Auftrittsbedingungen aushandeln, ohne sich durch Gerede blenden zu lassen, dazu fehlte ihr einfach die Erfahrung.

"Ich habe einigen geschrieben und jetzt muss ich einmal abwarten. Meine Mutter hat das jedenfalls sehr begrüßt." Ihre Mutter hatte in letzter Zeit versucht, ihr das eine oder andere Organisatorische abzunehmen, aber das war auf die Dauer keine Lösung.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt