Bevor Karina sich dagegen wehren konnte, hatte Sylvie bereits ihren Koffer geschnappt und aus dem Zug gehoben. Sie standen nun an einer Bahnstation in einer Vorortsgegend mit Einfamilienhäusern, die aussahen, als stammten sie aus den Fünfziger oder Sechziger Jahren, nur einige wirkten etwas neuer. Es sah alles irgendwie grau in grau aus, obwohl die Häuser sogar verschiedenfärbige Fassaden hatten, aber das hing wohl eher mit der Jahreszeit zusammen. Wenn die Bäume nicht mehr kahl waren und in den Vorgärten sowie auf der Straße keine braunen Schneematschhaufen mehr herumlagen, wirkte das alles bestimmt freundlicher. Sylvie hatte sogar gemeint, es sei hier ganz nett und einen See gab es angeblich auch. Doch von der ruhigen Straße, auf der sie nun entlang gingen, konnte man den nicht sehen. An einem der Fenster zeigte sich das Gesicht einer Frau, die unverhohlen zu ihnen heraus starrte. Sylvie winkte und lächelte ihr so freundlich zu, dass es gar nicht ernst gemeint sein konnte.
„Kennst du die?", fragte Karina verwundert.
„Nein", antwortete Sylvie ungerührt. „Aber die Leute in der Nachbarschaft scheinen sich bereits darüber zu wundern, dass ich mich zuletzt so oft in der Gegend blicken lasse. Und dann gehe ich noch mit einem Cello und einem Marienkäfer vorbei. Ein solches Ausmaß an Exzentrizität überfordert sie wohl."
„Die Leute hier kennen dich also? Dann bist du ja doch ein wenig berühmt." Sylvie stritt es zwar immer ab, aber einen kleinen Bekanntheitsgrad musste sie ja doch haben. Immerhin war sie in Dänemark schon öfter im Fernsehen gewesen. Früher als Violinistin und später als Reporterin „wenn gerade kein anderer Russland-Experte zur Hand war", wie sie nicht müde wurde zu betonen.
„Nicht so wie du glaubst. Ich wette ein paar von denen hier haben letzten Herbst böse Kommentare unter meinen Gartenzwerg-Artikel geschrieben. Da ich hie und da an ihren Vorgärtchen vorbeigehe, haben sie sich wohl persönlich gemeint gefühlt, und die Verunglimpfung direkt auf ihre eigenen Gartenzwerge bezogen."
„Und ich dachte immer, so sind die Leute nur in der Siedlung, in der ich aufgewachsen bin", grinste Karina. „Und was meint deine Mutter dazu, dass du in ihrer Nachbarschaft solchen Unfrieden anrichtest?"
Sylvie lachte. „Das ist ihr komplett egal. Und Alexander glücklicherweise genauso. Der kennt die Leute hier ja schon ewig. Meine Mutter meint, Leute, die nichts anderes zu tun haben, als sich einzubilden, dass ihre Gartenzwerge beleidigt wurden, können einem nur leid tun."
„Womit deine Mutter nicht ganz unrecht hat", pflichtete Karina ihr bei. Eine Frau, die mit nicht einmal Zwanzig als alleinerziehende Mutter dastand, musste wohl mit der Zeit wohl eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit nervigen und schwatzhaften Nachbarn entwickelt haben.
Schließlich kamen sie zu einem hellgrün gestrichenen Haus, in dessen Vorgarten ein halb angetauter Schneemann stand, der einen Schal trug, den sie irgendwann an Erik gesehen hatte. Sylvie steuerte darauf zu, doch sie hatte noch nicht einmal geklingelt, da flog die Eingangstür schon auf und Erik grinste ihnen entgegen. Jitka, die die ganze Zeit über still neben ihnen hergegangen war, ließ augenblicklich ihren Koffer stehen und rannte die drei Treppen zu ihm hinauf.
„Okay", raunte Sylvie Karina zu. „Die sind jetzt mindestens für die nächste halbe Stunde fix miteinander verwachsen. Mal sehen, wie wir an denen vorbei ins Haus kommen." Hinter Erik erschien nun eine hübsche Frau, die in etwa Mitte fünfzig sein musste. Sie war etwas kleiner, als Sylvie, hatte kurze dunkle Haare und freundliche braune Augen. Wenn man es wusste, konnte man schon erkennen, dass sie die Mutter der Beiden war. Sie blickte zu Erik und Jitka und deren Wiedersehensfreude schien auch ihr Freude zu machen. Karina ging auf sie zu und schüttelte ihr die Hand.
„Danke, dass wir kommen durften", sagte sie.
„Ich freue mich, euch beide endlich kennen zu lernen, nachdem ich so viel über euch gehört habe. Du musst Karina sein. Ich bin Magrethe. Kommt einfach rein." Karina nahm Jitkas Koffer von der Straße weg und folgte Sylvie und ihrer Mutter ins Haus. Jitka machte sich für einen Moment von Erik los, um Magrethe zu begrüßen. Währenddessen nutzte Erik die Gelegenheit um Karina stürmisch zu umarmen. Er wirkte blasser und sein Körper fühlte sich magerer an, als zuletzt, aber seine Augen und sein Gesicht strahlten. „Ich bin so froh, dass ihr endlich da seid", sagte er. „Lasst eure Sachen einfach im Vorzimmer stehen, das machen wir später. Wir haben Tee gemacht und Kaffee."
Sie ließ ihre Stiefel in dem kleinen Vorraum stehen, der mit Karinas und Jitkas Koffer, zwei Rucksäcken und einem Cello so ziemlich zur Gänze vollgeräumt war. Erik stopfte ihren Mantel zwischen Wand und Cello, da man die Kleiderhaken jetzt nicht mehr erreichen konnte.
„Sylvie hat dich ganz schrecklich vermisst", flüsterte er ihr zu, als die anderen schon vorausgegangen waren, um im Vorzimmer Platz zu machen. „Sie hat nicht oft was gesagt, aber ich habe es ihr angesehen", sagte er.
„Erik, was täte Sylvie nur ohne dich", sagte sie und drückte kurz seine Hand. Er war wohl der einzige Mensch, der wirklich Sylvies Gedanken lesen konnte, manchmal zumindest.
„Ich habe sie auch ganz schrecklich vermisst, und das gestehe ich dir offen und ehrlich. Und dich habe ich auch vermisst, Erik." Er musterte sie einen Moment lang mit etwas undurchschaubarem Gesichtsausdruck, dann umarmte er sie noch einmal kurz und sie folgten den Anderen in die Küche.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Fiction généraleManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...