38. Kapitel

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Erik umarmte Karina zur Begrüßung und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Sylvie und Jitka einander etwas distanziert die Hände schüttelten. Er war ziemlich froh über Karinas Idee, die beiden auch gemeinsam ein paar Stücke spielen zu lassen. Es wurde Zeit, dass sie sich besser kennen lernten. In Turin hatten sie schließlich kaum miteinander zu tun gehabt. Dann würde Sylvie vielleicht nicht mehr so skeptisch die Augenbrauen hochziehen, wenn von Jitka die Rede war und Jitka würde sehen, dass seine Schwester eigentlich ein ganz wunderbarer Mensch war. Ihm war bewusst, dass Sylvie etwas einschüchternd rüberkommen konnte, wenn man sie nicht kannte. Aber wenn sie jemanden kannte und mochte, dann war sie ganz anders. Da würde ihm Karina gewiss beipflichten.

"Na, dann lasst uns losgehen", sagte Karina und schnappte ohne Umschweife Sylvies Koffer, worauf diese mit Protest reagierte. Es folgte eine halb spielerische Debatte darüber, wer von beiden nun den Koffer ziehen würde, die damit endete, dass Sylvie nachgab und Karina den Koffer überließ. Erik und Jitka sahen einander grinsend an. "Die beiden fangen jetzt schon an, kompliziert zu sein", flüsterte sie ihm zu, ohne dass die anderen zwei es hören konnten, und dann trotteten sie ihnen kichernd hinterher.

Sylvie hatte darauf bestanden, dass Erik seine Sachen in ihren Koffer packte, damit sie nur ein Gepäckstück hatten und er nichts schleppen musste. Er hatte versucht, ihr klar zu machen, dass er noch nicht so schwer behindert war, dass er nicht einmal einen kleinen Rollkoffer hinter sich herziehen konnte. Aber Sylvie hatte keine Widerrede zugelassen. Immerhin hatte sie schließlich ihren Reiseführer, den sie im Flugzeug lesen wollte und noch ein paar andere Sachen in seinen Handgepäcksrucksack gesteckt, den er dann doch durchgesetzt hatte. Außer dem Geigenkoffer hatte sie nämlich nur eine kleine Handtasche in die Kabine mitgenommen, in die fast nichts hineinpasste.

"Ich wusste nicht, dass Karina ein Auto hat," bemerkte er, als sie in die Parkgarage schlenderten.

"Hat sie auch nicht", erklärte Jitka. "Wir haben uns entschlossen einmal diesen neuen Carsharing-Dienst auszuprobieren. Ist total praktisch. Aber Karina fährt wie eine gesengte Wildsau. Wenn wir's bis in die Stadt schaffen, so ist das reines Glück."

"Das hab ich gehört", rief ihnen Karina über die Schulter zu. Sie trug ein, wild in Herbstfarben gemustertes, Poncho-artiges Ungetüm und bildete damit einen ziemlichen Kontrast zu Sylvies schmaler dunkelgrauer Silhouette an ihrer Seite. Er hoffte, dass seine Schwester im Endeffekt auch froh darüber sein würde, Zeit mit Karina zu verbringen. Es hatte wirklich einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, sie zum Mitkommen zu bewegen. Aber wenn sie sich dazu verpflichtet hatte, ein Konzert zu spielen, dann konnte sie keinen Rückzieher machen.

Natürlich hatte sie tausend Einwände gehabt. Auch dagegen, dass er mitkam. Am Liebsten hätte sie ihn wohl bis zur Operation in ihre Wohnung gesperrt und nicht mehr aus den Augen gelassen. Doch sie hatte wohl eingesehen, dass das weder ihm noch ihr selbst besonders gut tun würde. Dass sich Vincent von ihr getrennt hatte und man ihr die Arbeit weggenommen hatte, die sie interessierte, machte die Sache nicht besser. Sylvie konnte nicht ohne Beschäftigung sein. Deswegen hatte sie dieses Violinkonzert dringend notwendig gehabt, auch wenn sie sich immer noch weigerte, das zuzugeben. Solange sie hier in Prag waren, würde sie jedenfalls genug zu tun haben, um ihm etwas Luft zum Atmen zu lassen. Dafür würde auch Karina sorgen.

Sie luden die Gepäckstücke, in den Kofferraum, Sylvie klemmte ihren Geigenkoffer besonders sorgfältig zwischen Koffer und Rucksack, damit ihm nichts passierte, selbst wenn Karina die Kurven besonders schwungvoll nahm, dann stiegen sie ein. Karina und Sylvie vorne, Erik und Jitka schnallten sich auf der Rückbank an.

Er befürchtete, dass sie die Aktion mit dem Auto auch vor allem wegen ihm veranstaltet hatten. Weil es ihm vielleicht nicht zuzumuten war mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Flughafen in die Stadt zu reisen, obwohl er sich daheim auch nicht anders fortbewegte. Vor allem seitdem er nicht mehr mit dem Rad fuhr. Dass er viel schneller aus der Puste kam, als sonst, hätte ihn nicht unbedingt davon abgehalten. Er konnte ja ein gemächlicheres Tempo einlegen. Aber Sylvie hatte ihm einen langen und eindringlichen Vortrag darüber gehalten, was ihm alles passieren konnte. Dinge, die ihm nie eingefallen wären, aber im Grunde hatte sie Recht. Natürlich hatte Sylvie immer Recht. Es reichte, wenn ihm plötzlich schwindlig wurde und er dadurch stürzte oder mit anderen Radfahrern, Fußgängern oder gar Autos kollidierte. Das würde auch andere in Gefahr bringen und das wollte er schließlich auch nicht. So hatte er sich zähneknirschend eine Karte für die öffentlichen Verkehrsmittel gekauft.

Dabei ging es ihm gar nicht so schlecht. Er stimmte schon, dass er schneller müde wurde, er kam schneller außer Atem und hie und da wurde ihm aus heiterem Himmel übel und schwindlig. Doch mittlerweile wusste er auch, dass das recht bald vorbeiging, wenn er sich hinsetzte, ruhig durchatmete und einen Schluck Wasser trank. Er machte sich nichts vor, all das passierte mittlerweile öfter, als noch vor ein paar Wochen und bis diese verdammte Herzklappe nicht repariert war, würde sich das nicht bessern, eher im Gegenteil. Aber es hatte keinen Sinn sich während der zwei Monate, die bis dahin blieben, das Leben mühsamer zu machen, als unbedingt notwendig. Er wusste, dass seine Schwester es gut meinte, dass sie sich um ihn sorgte. Aber ihre Angst konnte er manchmal beinahe körperlich spüren und sie ging ihm ziemlich unter die Haut. Es war doch nicht so, dass er selbst keine Angst hatte, aber er hatte beschlossen, dass diese Angst so wenig wie möglich von ihm Besitz ergreifen sollte. Sie hatten diese Ablenkung beide notwendig, Sylvie vielleicht noch mehr als er selbst.

Er schaute aus dem Fenster wo abwechselnd Hochhaussiedlungen, herbstbunte Hügel und schöne, manchmal etwas ramponiert aussehende, Gründerzeithäuser an ihnen vorbeizogen. Er hörte immer wieder Karinas Stimme, die, wenn sie zu einem gewagten Überholmanöver ansetzte, in tschechisch auf andere Verkehrsteilnehmer schimpfte, dazwischen Sylvie irgendwelche russischen Worte zuzwitscherte, die anscheinend für andere Ohren nicht bestimmt waren, oder sie sagte etwas auf englisch, das auch die anderen Passagiere hören sollten. Dann wies dir darauf hin, dass man jetzt links oben schön die Prager Burg sehen konnte, oder dass sie nun gleich die Moldau überquerten. Er spürte, wie Jitka nach seiner Hand griff und er lächelte ihr zu. Während dieser Woche hier in Prag würde es ihnen gut gehen, das hatte er beschlossen.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt