84. Kapitel: Das Hochzeitsfoto

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Karina blieb neben Sylvie sitzen, sie plauderten mit Magrethe und tranken Tee, während Jitka und Erik im Hintergrund die neuen Noten ausprobierten. Auf dem Wohnzimmerklavier, wie Sylvie das alte Pianino irgendwann einmal genannt hatte.

„Immerhin haben wir im Moment sogar zwei Klaviere im Haus", erklärte Magrethe nicht ganz ohne Stolz. Wohl nicht so sehr auf die beiden Klaviere, eher auf den darauf spielenden Sohn. Und sie hatte vollkommen Recht damit, sich auf ihre beiden Kinder ordentlich was einzubilden, fand Karina.

„Aber er spielt auch fast ständig darauf", sagte Magrethe. „So war er immer schon. Nicht wahr, Sylvie? Das hat er sich schon als kleines Kind von dir abgeschaut. Du warst ja genauso mit deiner Geige."

Sylvie nickte abwesend. „Ja, kann sein", sagte sie.

„Von wem soll er es sonst haben", warf Karina ein und strich Sylvie mit der Hand über die Schulter, woraufhin ihr diese ein schiefes Lächeln zuwarf.

„Ich finde es schön, hier zuhause, wieder von Klaviermusik umgeben zu sein", sagte Magrethe lächelnd und blickte du den beiden Klavierspielern hinüber. "Aber das Komponieren ist neu", fuhr sie fort. „Das hat er früher nie gemacht. Ich frage mich ja immer, wo man solche Ideen hernimmt, doch er sagt, seit er nicht mehr so verbissen üben muss, hat er auf einmal freies Hirn, um kreativ zu sein."

„Und das ist gut so", sagte Karina und trank einen Schluck Tee. Jitka spielte auf der anderen Seite des Raumes gerade eine schnelle Tonleiter.

„Klingt super", sagte sie.

„Jetzt wieder", antwortete Erik. „Ich hab's vor einem Monat gestimmt."

„Du stimmst das Klavier selbst?", fragte Jitka staunend.

„Spart Geld. Und es ist weniger dabei, als man denkt. Ich habe mir damit, während des Studiums sogar was dazuverdient, nachdem sich unter den Kollegen herumgesprochen hatte, dass ich das schon mal gemacht habe. Und irgendwann kriegt man Übung."

„Ihr Beide habt euch ja schon letztes Weihnachten über das verstimmte Klavier mokiert", warf Magrethe ein.

„Mokiert ist gut", kommentierte Sylvie. „Erik war ziemlich ungehalten darüber, dass er darauf seinen Tschaikowsky nicht üben konnte. Aber zum Stimmen hatte er auch keine Zeit."

„Jetzt hab' ich's doch erledigt", kam es von der anderen Seite des Raumes, wo Erik und Jitka sich den Klavierschemel teilten. Nicht, dass hier ein Mangel an Stühlen herrschte ...

Jitka spielte sich langsam durch die ersten Takte und Erik saß daneben, hörte zu und griff nur hie und da korrigierend ein. Karina stand währenddessen von ihrem Sessel auf und blickte sich ein wenig um. Die Küche, in der sie bei Tisch saßen, ging übergangslos ins Wohnzimmer über. Auf der gegenüberliegenden Schmalseite des Raumes blickte eine Fenstertür in den Garten, hinter dem sich der See erahnen ließ, daneben stand auf der einen Seite das Klavier, auf der anderen der Weihnachtsbaum auf dem Papierherzen, Strohsterne, dänische Fähnchen und Zwerge mit Glöckchen und Zipfelmützen hingen.

Über die eine Längsseite zog sich ein Bücherregal aus hellem Holz, das Karina sogleich neugierig inspizierte. Hier fand sich alles, was sich in einem Bücherregal mit der Zeit so ansammelte. Alle Arten von Romanen, Reiseliteratur, Sachbücher, deren Titel Karina nicht lesen konnte, da sie im Dänischen noch nicht ganz so weit vorgedrungen war, außerdem Atlanten, Lexika und sonstige umfangreiche Werke, die man sich heutzutage wohl nicht mehr in dieser Form anschaffen würde.

Dazwischen entdeckte sie immer wieder gerahmte Familienfotos. Eines zeigte wohl Magrethes jetzigen Mann, Alexander mit seinen zwei kleinen Söhnen. Alle drei braungebrannt in die Sonne grinsend mit griechisch anmutenden Häusern im Hintergrund. Im angrenzenden Regalfach entdeckte sie ein Bild, vor dem sie sofort fasziniert stehen blieb. Es zeigte Magrethe in jüngeren Jahren, in einem langen, hellblauen Kleid und einem Rosenstrauß in der Hand, zusammen mit einem Mann, der Erik täuschend ähnlichsah, bis auf den dunkeln Anzug, im Stil von vor dreißig Jahren. Das sah nach einem Hochzeitsfoto aus. Und vor den beiden stand ein dunkelhaariges, kleines Mädchen in einem rosa gerüschten Kleid, in dessen breitem Lächeln ein Schneidezahn fehlte und das ganz stolz eine Kindergeige in der Hand hielt.

„Sylvie!", entfuhr es Karina. „Das ist ja sowas von entzückend!"

„Was?", kam es von der Angesprochenen zurück. „Hast du das Hochzeitsfoto entdeckt."

„Du hast damals Geige gespielt?"

„Sie hat uns die Schubert-Serenade gespielt. Ihre Geigenlehrerin hat sie auf dem Klavier begleitet. Mittlerweile kann das ja Erik übernehmen, aber den hatten wir damals noch nicht."

„Sylvie, du warst so süß!" Daraufhin verdrehte Sylvie natürlich die Augen, aber sie lachte dabei.

„Bist du überrascht, dass selbst Sylvie irgendwann einmal ein Kind war?", kam es jetzt aus Eriks Richtung. „Ist übrigens ein herrliches Foto", fügte er hinzu.

„Ich mag es auch sehr", sagte Magrethe. „Du warst sehr stolz auf dieses Kleid, Sylvie, weißt du noch?"

Sylvie grinste etwas verlegen und nickte. Karina betrachtete das Foto noch einmal. Rosa Rüschen hatten Sylvie auch damals nicht besonders vorteilhaft gekleidet. Aber das schien der kleinen Sylvie auf dem Foto nichts auszumachen. Sie sah glücklich aus in ihrem Kleid, mit ihrer Geige und vermutlich vor allem mit den Eltern, die nun zu zweit waren. Sie hatte nie einen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie Eriks Vater selbst auch als richtigen Elternteil betrachtet hatte.

Nun war auch Jitka neugierig neben Karina aufgetaucht.

„Wahnsinn, du siehst wirklich fast genauso aus wie er!", sagte sie zu Erik gewandt, der nun lächelnd einen Arm um sie legte und ebenfalls das Bild anschaute.

„Lukas hatte damals die Idee, dass Sylvie etwas auf der Geige spielen könnte", erzählte Magrethe. „Er hat sie immer sehr ermutigt ... nicht, dass man da viel ermutigen musste. Aber er hatte immer Ideen ..."

„Ach, wenn er euch Beide doch nur heute hören könnte", seufzte Karina. Bestimmt wäre er verdammt stolz zu sehen, was aus Erik und Sylvie geworden war, dachte sie. Und sie selbst hätte ihn nur allzu gerne kennen gelernt. Doch die Spuren, die er hinterlassen hatte, die waren auch jetzt noch ganz deutlich.

„Ich denke, er kann uns hören", sagte Erik versonnen. „Also irgendwie. Da oben im Weltall. Oder wo auch immer ..."

Ein sehr schöner Gedanke, dachte Karina. Daran wollte sie auch gerne glauben. In dem Moment hörte sie, das Geräusch, wie ein Sessel langsam über den Boden geschoben wurde. Sylvie war beinahe lautlos von ihrem Platz aufgestanden. Sie nahm die Teekanne in die Hand, verteilte den restlichen Tee auf die herumstehenden Tassen und wandte ihnen dann den Rücken zu. Sie machte sich in der Küchenzeile daran, frisches Wasser aufzusetzen und während sie darauf wartete, dass es heiß wurde, räumte und wischte sie in der ohnehin sehr ordentlichen Küche herum. Karina musste eine ganze Weile lang bestürzt zu ihr hingesehen haben, denn jetzt spürte sie Magrethes Hand auf ihrem Arm.

„Es tut mir leid", flüsterte Karina. „Ich fürchte, ich habe schon wieder zu viel Unsinn geredet. Ich sollte ..." Sie wollte losgehen und Sylvie umarmen, doch Magrethe stand jetzt vor ihr und schüttelte lächelnd den Kopf.

„Du hast überhaupt keinen Unsinn geredet", sagte sie lächelnd. „Lass ihr einfach einen Moment. Das ist immer noch schwierig für sie ... Aber weißt du was, ich denke, du bist genau die Person, die Sylvie braucht, so herzlich und spontan, das tut ihr gut."

„Danke", sagte Karina überrascht. Sie wusste gar nicht, was sie sonst darauf sagen sollte. Und so umarmte sie die verblüffte Magrethe ganz einfach.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt