Sylvie ließ sich bereitwillig von Karina an der Hand nehmen, die sie an das Ende der Plattform zog. Auch wenn sie im Lauf der Zeit die eine oder andere gigantische Monumentalverirrung mit politischer Überfrachtung besichtigt hatte, so war dieses Ungetüm hier jedenfalls einer ihrer Favoriten für den Titel der hässlichsten Sehenswürdigkeit Prags.
Auch wenn es Sylvies Informationen zufolge gefährliche Konkurrenz durch den Fernsehturm bekam, den man von hier aus sogar recht gut sehen konnte. Ob dieser Turm das Nationaldenkmal an Hässlichkeit überbieten konnte, ließ sich von hier aus bei Nacht jedoch nicht gut feststellen, denn aus der Ferne und in den tschechischen Farben weiß, rot und blau beleuchtet wirkte er ganz harmlos.
Sie stellten sich an die Brüstung des Plateaus und blickten hinunter in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Vor ihnen lag der Hauptbahnhof und im Hintergrund ließen sich mehrere Hügel ausmachen, auf einem konnte sie sogar den beleuchteten Hradschin erkennen. Dann umrundeten sie noch die komplette Plattform, was ein Unternehmen für sich war. Sylvie hatte sich im Flugzeug Einiges durchgelesen, und dabei den Besonderheiten, die sich im Umkreis der Wohnung befanden, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Immerhin war sie schon mehrere Male in Prag gewesen, da konnte man sich auch andere Gegenden, als die touristenverstopfte Altstadt vornehmen. Wenn sie es richtig in Erinnerung hatte, dann war alleine diese Plattform etwa 150 Meter lang und das sich darauf befindliche ehemalige Mausoleum 30 Meter hoch. Daneben kam sie sich geradezu winzig vor. Als sie wieder die breite, weiße Treppe erreicht hatten, machten sie sich wieder auf den Weg durch den Park nach unten.
"Was hältst du von dem Fernsehturm?", fragte sie Karina dann und zeigte hinüber. "Lohnt es sich dort hinaufzufahren?"
"Ich war einmal oben, als meine Schwester zu Besuch war. Die Aussicht ist ganz gut, aber es gibt in Prag so einige Aussichtstürme. Genau das richtige Programm für unsere zwei Turmspezialisten, wenn ich mir's recht überlege."
"Bloß nicht!", entgegnete Sylvie. "Bring die Beiden nur nicht auf Ideen. Ich habe Erik eingeschärft, dass ich solche Geschichten nicht mehr hören möchte." Nachdem er die Sache anfangs nur vage angedeutet hatte, hatte sie Erik die vollständige Schilderung dessen, was sich auf dem Turm in Turin abgespielt hatte, Stück für Stück aus der Nase ziehen müssen. Wie sollte sie denn aufhören, sich Sorgen zu machen, oder ihm gar vertrauen, wenn sie nie sicher sein konnte, dass er ihr auch alles erzählte? Was er offensichtlich nicht tat.
"Naja, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch einmal besonders wild auf so ein Erlebnis sind", sagte Karina. Sylvie spürte neuerlich ihren Arm an ihrer Taille und sie schnaubte noch einmal kurz vor sich hin, bevor sie sich im Gehen wieder ein wenig an Karina lehnte. Irgendwie war es angenehm, mit ihr so durch den dunklen Park zu schlendern und Sylvie fühlte wie etwas von der Anspannung, die sie während der letzten Wochen fest im Griff gehabt hatte, von ihr abfiel. Ein wenig wünschte sie sich, die Zeit könnte jetzt einfach still stehen. Dass sie sich über nichts anderes Gedanken machen musste, als über die nächsten paar Schritte, oder die Entscheidung, ob sie in dem verschlungenen Netz der Wege rechts oder links abbiegen wollten. All diese verzweigten Wege führten am Schluss in die gleiche Richtung, denn irgendwann standen sie wieder unten an dem Weg, von dem aus man direkt in den Eisenbahntunnel blicken konnte.
"Ist dir kalt?", fragte Karina und drückte sie noch ein wenig enger an sich.
"Jetzt, wo du es sagst, vielleicht ein wenig kühl."
"Lass uns zu mir gehen, ich habe noch was von dem Rotwein aufgehoben, den ich aus Turin mitgebracht habe."
"Typisch Karina", lachte Sylvie. "Da kann ich nicht nein sagen. So lange du mir nicht wieder deinen Absinth auftischst." Sie konnte sich die kleine Spitze nicht verkneifen. Wie gehofft hatte Karina jedoch den gutmütigen Ton in ihrer Stimme registriert und sie boxte sie lachend in die Seite. Damit war wenigstens diese Geschichte vom Tisch. Sie konnten darüber dumme Witzchen reißen, damit war einiges gewonnen.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficción GeneralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...