Erik stellte die Schachtel auf den Tisch und sofort stürzten sich die Zwillinge darauf, um die darin befindlichen Schätze zu begutachten und auf den Baum zu hängen. Er hatte gestern alles durchgesehen, von Staub und Spinnweben befreit, und die kaputt gegangenen Stücke schweren Herzens aussortiert.
Irgendwann im Lauf des Jahres musste die Kartonschachtel feucht geworden sein, denn die Papierherzen, die letztes Jahr noch völlig in Ordnung gewesen waren, wellten sich nun, hatten Löcher und schwarze Schimmelflecken. Es fiel ihm immer schwer, kaputte Dinge wegzuwerfen. Vor allem, wenn so viele Erinnerungen daran hingen. Er durchsuchte das Gerümpel auf dem Dachboden und fand einen leeren Schuhkarton, in den legte er die verschimmelten Herzen, sowie die ebenfalls ruinierten und ausgefransten Strohsterne, und dann war da noch diese zerbrochene Glaskugel. Die Kugel mit dem Schneestern drin. Die gab es doch schon ewig. Sie hatten nie ohne diese Kugel Weihnachten gefeiert. Wie konnte die auf einmal kaputt sein?
Er seufzte und legte die Scherben ebenfalls dazu und schob den Karton schließlich in eine Ecke zwischen ein paar andere Schachteln mit altem Zeug. Somit waren die Sachen weg, aber eben nicht ganz. Damit konnte er leben. Er wusste, was Sylvie davon halten würde. Aber das war ihm egal. Er brachte es nicht über sich, die Sachen fortzuwerfen. Die Dinge, die noch heil waren, sahen jedenfalls wieder schön sauber und glänzend aus, ohne Glasscherben dazwischen. Niemand sollte sich beim Baumschmücken verletzen.
Während er mit den Kindern den Baum behängte, saß Sylvie immer noch beim Tisch und zerschnippelte konzentriert mit einer spitzen, kleinen Schere das Buntpapier. Gestern Abend hatte sie anscheinend der Ehrgeiz gepackt. Nach den ersten beiden eher konventionellen Herzen, hatte sie sich im Internet die kompliziertesten Schablonen gesucht, die sie finden konnte und seitdem schnippelte und schnippelte sie. Dabei schien sie nichts von den sonst so beliebten Tiermotiven zu halten: Katzen, Schwäne, Pinguine ... Er hatte selbst ein Herz mit einem Schwan für Jitka gebastelt. Bei Sylvies Herzen gab es vor allem fein verschlungene geometrische Formen und Ornamente, keine gegenständlichen Motive. Zwischendurch war sie sogar rausgelaufen um noch mehr Buntpapier zu besorgen. Seitdem stapelten sich die Herzen vor ihr auf dem Tisch.
"Braucht eure Rubrik noch Bastelexperten für Julehjerter?", witzelte Erik und erntete dafür einen vernichtenden Blick von seiner Schwester. Sie widmete sich weiterhin schweigend den zwei ausgeschnittenen Herzhälften, die sie nun sorgfältig miteinander verflocht und sichtlich zufrieden beobachtete wie ein kompliziertes und sehr regelmäßiges Muster entstand.
"Es macht irgendwie Spaß", sagte sie dann. Erik fand selbst, dass gerade die komplexeren Muster eine ziemliche Fitzelarbeit waren und dabei von Spaß keine Rede sein konnte. Man musste wirklich genau arbeiten, damit es passte und man musste vorsichtig sein, um das Papier beim zusammenflechten nicht zu zerreißen. Allerdings schien diese Art von Beschäftigungstherapie ganz nach Sylvies Geschmack zu sein.
"Die Wichtel müssen auch noch auf den Baum", sagte Jakob und nahm die an einer Schnur zusammenhängenden Figuren aus Filz, die rote Zipfelmützen trugen aus der Schachtel. Ein Geräusch ließ Erik zusammenfahren und für einen Moment verharrte er mitten in der Bewegung. Ein Klingeln. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass jeder der Wichtel ein winziges Glöckchen in der Hand hielt, das jedes Mal ertönte, wenn jemand daran stieß.
"Erik? Geht's dir gut?", er spürte, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Es war Jens, der immer gleich alles zu merken schien.
"Ja, ja. Alles gut", sagte er schnell und fuhr dem Kleinen geistesabwesend mit der Hand über den Kopf. Um sich abzulenken begann er konzentriert alle Strohsterne aus der Schachtel herauszusuchen und sie den Kindern hinzulegen. Es war wirklich lächerlich, dass ihn das hier wieder einmal so aus dem Konzept brachte, redete er sich ein. Doch Sylvie war mittlerweile auch aufmerksam geworden.
DU LIEST GERADE
Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficción GeneralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...