110. Kapitel - Noch mehr Warterei ...

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Jitka hatte sich auf der Bank in Sylvies sogenanntem Musikzimmer zusammengerollt und versuchte ein wenig zu schlafen, was ihr allerdings nicht besonders gut gelang. Ihr ging so vieles im Kopf herum, das sortiert werden wollte. Da war natürlich die Sorge um Erik, es hatte weh getan, ihn so zu sehen. Die Angst in seinem Blick, als man ihn in den Rettungswagen schob und dann auf der Intensivstation, irgendwie so weggetreten, kaum noch richtig vorhanden. Doch sie wusste jetzt auch, dass er gut aufgehoben war und, dass die Operation ihm helfen würde, damit es wieder bergauf ging. Risiko hin oder her, daran wollte sie jetzt lieber nicht denken. Sie konnte später noch weinen, falls es dann wirklich Grund dazu geben sollte, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt.

Sie wollte das Beste hoffen und nach vorne schauen. Wenn sie was anderes zuließ, dann ging es ihr am Ende noch so wie Sylvie. Magrethe hatte ihr alles erzählt, und dass Karina sie nach Hause gebracht hatte. Sylvie tat ihr leid. Sie war ganz bestimmt nicht die böse Schneekönigin, für die sie sie irgendwann einmal gehalten hatte, auch wenn es ihr immer wieder gelang, ihre Mitmenschen mit Blicken und Bemerkungen vorübergehend einfrieren zu lassen. Jitka hatte es nicht nur einmal beobachtet, bei Erik, bei Karina und auch bei sich selbst.

Sie wusste nach wie vor nicht, wie sie mit Leuten wie Sylvie umgehen sollte. Sonst war es ihr immer gelungen, um Menschen, die sie furchteinflößend fand, einen Bogen zu machen, aber bei Sylvie ging das nicht. Wenn sie bei Erik bleiben wollte, dann musste sie Sylvie in Kauf nehmen, ebenso wenn Karina weiterhin ihre beste Freundin bleiben sollte. Da half es wohl nur, rechtzeitig den Kopf einzuziehen und weiterhin ein sonniges Gemüt zu kultivieren, wenn die Eiszapfen wieder mal tief flogen.

Jitka hatte an Eriks Bett viel mit Magrethe geredet. Sie hatte von früher erzählt. Davon, dass Sylvie immer schon gerne auf Erik aufgepasst hatte. Und nun machte Magrethe sich Vorwürfe deswegen. Da es ihr gelegen gekommen war, dass Sylvie sie entlastete, vor allem nach dem Tod von Eriks Vater, als sie mit den beiden wieder alleine war. Und sie hatte nie einen Babysitter oder Nachhilfelehrer gebraucht, das hatte Sylvie alles von sich aus übernommen. Dabei war sie auch noch ein Kind gewesen.

„Ich glaube, sie hat nicht nur einmal Eriks Hausaufgaben geschrieben, damit er Klavier üben kann. Sie war ja viel schneller damit", hatte Magrethe mit einem Lächeln erzählt. „Sylvie war ja immer eine Musterschülerin, und sie konnte ziemlich sauer werden, wenn es ihr einmal nicht gelang überall die besten Noten zu bekommen. Bei Erik war das anders, er hat sich durch die Schulzeit eher so durchgewurstelt, wie das mit dem geringstem Aufwand möglich war. Ehrgeizig war er nur beim Klavierspielen. Das war alles was ihn interessiert hat. Zum Glück haben die Lehrer immer wieder ein Auge zugedrückt. Sie wollten ihm, ihm seine Klaviererfolge nicht durch schlechte Mathematiknoten verderben. Man hat ihm schon damals nie richtig böse sein können. Das meiste, was sich tagsüber bei uns abspielte bekam ich auch gar nicht mit. Wenn ich von der Arbeit kam, hatten Sylvie und Erik bereits alles erledigt. Sie hat ihn durchaus auch angetrieben etwas für die Schule zu tun." Das konnte Jitka sich lebhaft vorstellen. Sylvie hatte vermutlich schon damals immer gewusst, was das Beste für ihren Bruder war, egal ob er das auch so sah oder nicht.

"Ich habe es dann von den Nachbarn gehört, wenn zwischen meinen Kindern wieder einmal die Fetzen geflogen sind. Aber wenn ich reinkam, waren sie wieder ein Herz und eine Seele. Sie haben immer zusammengehalten. Aber jetzt denke ich, vielleicht hätte ich doch genauer hinsehen sollen. Sylvie hat praktisch meine Rolle übernommen, wenn ich nicht da war. Vielleicht war auch der Altersunterschied zwischen den beiden zu groß. Sie hat sich verantwortlich gefühlt und das tut sie immer noch. Wenn es um die Musik ging, waren die beiden ohnehin in einer Welt, in der ich mich nicht auskannte. Und so ist das schließlich immer noch."

Im Nachhinein konnte man die Vergangenheit aber nicht mehr ändern, dachte Jitka. Wer konnte schon sagen, warum Menschen irgendwann so wurden, wie sie eben waren. Weshalb sie sich so verhielten, wie sie es taten. Sie konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass Magrethe irgendwas falsch gemacht hatte. Erik und Sylvie liebten ihre Mutter und das war doch der beste Beweis dafür, dass sie vieles richtig gemacht haben musste. So sah zumindest Jitka das, und so sagte sie das auch Magrethe.

Am späten Vormittag spazierten alle zusammen zurück zum Krankenhaus, bis auf Vincent, der sich schon bald nach ihrer Ankunft verabschiedet hatte, da er wieder in die Arbeit musste. Als sie sich am Empfang meldeten, konnte ihnen noch niemand etwas sagen. Man wolle jedoch telefonisch Bescheid geben, und so beschlossen sie sich einstweilen in die Cafeteria im Erdgeschoß zu setzen, da Karina der Meinung war, Sylvie vertrüge den Automatenkaffee, den es auf den Stationen gab nicht besonders gut.

Überhaupt schien Karina es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, Sylvie davon abzuhalten literweise Kaffee in sich hineinzuschütten, was sie gewiss getan hätte, da hegte Jitka keinen Zweifel. Karina versorgte alle mit ausreichend Tee und Mineralwasser. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, aber die hatten sie vermutlich alle. Keine von ihnen hatte in dieser Nacht besonders viel geschlafen. Jitka hoffte, dass Karina wenigstens heute Nacht zu ausreichend Schlaf kommen würde.

Immerhin hatte sie morgen ihren Termin beim Radiosymphonieorchester und da sollte sie einen guten Eindruck machen, und nicht aussehen, als hätte sie davor ganze Nächte durchgemacht. Karina wünschte sich diese Stelle so sehr. Immerhin war es genau das, was sie wollte und Stellen für junge Dirigenten gab es nicht unbedingt wie Sand am Meer. Gleichzeitig hing daran ihre Hoffnung auf ein Leben zusammen mit Sylvie hier in Kopenhagen.

Jitka selbst träumte schließlich auch davon, hierher zu ziehen. Mindestens seit letztem Herbst, als sie mit Erik darüber gesprochen hatte. Und jedes Mal wenn sie sich um Erik Sorgen machte, oder wenn er sich Sorgen um die Zukunft machte, hatten sie begonnen sich auszumalen, wie es sein würde. Er hatte gemeint, dass sie zu zweit vermutlich eine größere Wohnung brauchten und sie hatte ihm versichert, dass sie fürs Erste ganz zufrieden sein würde, sich mit ihm zusammen auf die auseinandergeklappte Schlafcouch oder vors Klavier zu kuscheln.

Magrethe hatte ihr heute Nacht sogar angeboten, dass sie doch fürs Erste alle Beide bei ihr wohnen konnten, das Haus sei schließlich groß genug. Und Jitka vermutete, dass Magrethe es auch genossen hatte, ihren Sohn eine Weile lang bei sich zu haben und mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Die Gedanken an die verschiedenen Optionen, wie sie ihre Zukunft gestalten konnten, hielten sie davon ab, an die Möglichkeiten zu denken, wie alles schief gehen konnte.

Mit einem Mal fuhr Sylvie hoch, als wäre der Blitz in sie gefahren. Der Blitz, in Form eines Telefonklingelns. Sylvies Handy war die ganze Zeit vor ihr auf dem Tisch gelegen, und sie hatte es keine Sekunde lang aus den Augen gelassen. Jitka sah deutlich, wie ihr Körper sich noch mehr anspannte, als ohnehin schon und sie ihre freie Hand auf die Tischplatte presste, wie um sie vom Zittern abzuhalten. Das Telefonat dauerte nicht lange und als sie auflegte, atmete sie sichtbar ein und aus und Jitka hielt den Atem an.

„Sie sind fertig", sagte Sylvie schließlich knapp. „Dr. Nørregard kommt gleich her um mit uns zu reden." Fast gleichzeitig bestürmten sie Sylvie mit Fragen. „Ist alles gut gegangen? Wie geht es ihm jetzt? Ist er ansprechbar? Dürfen wir zu ihm?"

Doch daraufhin funkelte Sylvie alle einfach nur wütend an.

„Was weiß ich?", knurrte sie und wich einen Schritt zurück, als sich Karina ihr nähern wollte. Ja, vermutlich brannten ihr die gleichen Fragen unter der Zunge und sie hatte auch keine Antwort. Jitka ging zu Karina und legte einen Arm um sie. Sie war die ganze Zeit für Sylvie dagewesen, und Jitka wollte gar nicht wissen, wie anstrengend es sein musste, ständig dieser geballten Negativität trotzen zu müssen. Sie konnte Sylvies Sorgen ja nachvollziehen, aber sie hatte gleichzeitig das Gefühl Sylvie nicht ansehen zu können, ohne sogleich in ein schwarzes Loch hineingezogen zu werden.

Es dauerte ein Weilchen bis der Arzt endlich bei ihnen war. Er sprach mit Sylvie und Magrethe, während Sylvie wieder in ihren Automatenmodus wechselte und alles parallel für Karina und Jitka übersetzte.

Jitka atmete auf. Selbst in Sylvies Tonfall, der kaum dazu angetan war, Hoffnungen aufkeimen zu lassen, war die Antwort inhaltlich genau das, was Jitka sich erhofft hatte. Die Operation war erwartungsgemäß verlaufen. Die mechanische Herzklappe funktionierte. Erik sei allerdings noch nicht wach und es könne noch ein Weilchen dauern bis sie zu ihm konnten. Sylvie betonte, dass dies noch lange kein Grund war, um aufzuatmen, aber Jitka fühlte sich sogleich um mehrere Felsbrocken erleichtert und Sylvie wurde von ihrer Mutter und Karina gleichzeitig gedrückt, ob sie das nun wollte oder nicht.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt