103. Kapitel - Der Notenschlüssel

42 9 0
                                    

Natürlich tat es Jitka leid, was gerade mit Erik passierte. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen und natürlich hätte sie auch lieber mit ihm zusammen Kopenhagen erforscht, Klavier gespielt, oder einfach mit ihm in der Wohnung gesessen und geredet. Was auch immer. Hauptsache, sie waren zusammen. Sie hatten schließlich so wenig Zeit miteinander.

Aber, dass das hier gerade jetzt passierte, hatte vielleicht nicht nur Negatives. Früher oder später wäre es möglicherweise ohnehin so weit gekommen. Und dass es Erik schlecht ging und sie nicht bei ihm sein konnte, das war ein Gedanke, der noch schwerer zu ertragen war. Vielleicht war es egoistisch von ihr. Aber sie hatte sich am meisten davor gefürchtet in Prag zu sitzen, während er operiert wurde und die ganze Zeit zu bangen und auf eine Nachricht warten zu müssen. Das Warten und Bangen würde sich nicht vermeiden lassen, aber nun sah es so aus, als ob sie wenigstens in seiner Nähe sein konnte.

Sie hielt seine Hände fest und versuchte, sie warm zu reiben. Seine schönen Hände, die sonst so schnell und sicher über die Tasten flogen. Die sie auf ihrer Haut, in ihrem Gesicht und in ihren Haaren gespürt hatte. Jetzt waren sie ganz kalt und zittrig.

„Morgen um die Zeit hab ich's hinter mir, wie es aussieht ...", murmelte er und Jitka nickte. „Dann habe ich zwar ein zerhacktes Brustbein, aber der Rest funktioniert wieder." Er schaffte ein schiefes Lächeln und Jitka lächelte zurück. Er wollte sich selbst und ihr Mut machen.

„Ja, aber das wächst wieder zusammen", sagte sie. Sie hatte auch ihre Recherchen angestellt. Immerhin hatte sie wissen wollen, was auf Erik zukam, und das Meiste, was sie dazu gefunden hatte, stimmte sie eher optimistisch. Viele Menschen lebten nach so einer Operation verhältnismäßig unbeeinträchtigt weiter. So würde es auch bei Erik sein. Natürlich war der Plan gewesen, dass er zum vereinbarten Termin ins Krankenhaus fuhr und nicht, dass ihn mitten in der Nacht die Rettung holen musste und, dass er dann gleich auf der Intensivstation landete. Aber so war es nun einmal gekommen. Es würde trotzdem gut gehen. Eine andere Möglichkeit gab es einfach nicht. Magrethe, die auf der anderen Seite von Eriks Bett saß, lächelte sie beide an. Sie schien auch dieser Meinung zu sein.

Eine Weile saßen sie alle drei ruhig da, Erik schloss zwischendurch die Augen und döste ein wenig ein. Seine Atemzüge rasselten immer noch besorgniserregend, aber er atmete immerhin. Die Pfleger und Ärzte, die ständig hereinkamen, um nach ihm zu sehen, schienen im Moment zumindest nicht besonders beunruhigt. Es schien alles so gut zu sein, wie es jetzt gerade eben sein konnte. Jitka versuchte, einfach daran zu denken, dass ihm schließlich bald geholfen würde. Sie hatte schließlich bemerkt, wie ungeduldig er während der letzten Zeit gewesen war. Zumindest würde er jetzt nicht mehr warten müssen und seine Mutter auch nicht, sie würden alle nicht mehr warten müssen. War es nicht das gewesen, was sich gestern immer schwerer über sie alle gelegt hatte?

Erik rührte sich wieder und blinzelte ein wenig. Er sah Jitka an, dann seine Mutter und blickte sich suchend um.

„Wo ist eigentlich Sylvie?", fragte er. Es schien ihm jetzt erst richtig aufzufallen, dass sie nicht hier war. „Sie ist einen Moment lang rausgegangen. Und Karina auch", erklärte Magrethe und strich ihm leicht über die Wange. Er nickte nur.

„Sie ist ziemlich müde", sagte Magrethe. Das war selbst Jitka aufgefallen, als Sylvie ihnen wie ein Tonbandgerät alles abspulte, was der Arzt ihr anscheinend vorher erklärt hatte.

„Kein Wunder", Erik seufzte und hustete ein wenig. „Sie ist die ganze Zeit wach geblieben, wegen mir. Sie kann doch bei sich zu Hause ein wenig schlafen, es ist ja nicht weit von hier. Wir können sie jederzeit anrufen, oder?"

„Natürlich", sagte Magrethe. „Aber du kennst deine Schwester ..."

Erik sagte nichts und starrte einen Moment lang vor sich hin. Jitka versuchte, sich vorzustellen, woran er jetzt dachte, aber wenn es um Sylvie ging, war Erik für sie ziemlich undurchschaubar. Manchmal, glaubte sie, ihn verstehen zu können, aber meistens nicht.

„Mach dir keine Gedanken", sagte Magrethe und stand von ihrem Sessel auf. „Ich sehe mal nach ihr."

Nachdem Eriks Mutter draußen war, kam eine Schwester herein, drehte an einigen Reglern an dem Apparat, der neben Erik stand und ging wieder.

„Jitka", sagte Erik, als sie alleine waren, vermutlich nur für einen Moment. Er sah sie dabei eindringlich an. „Sylvie hat meinen Rucksack mitgebracht .... ich weiß nicht wo der gerade ist ... aber kannst du ihn finden und darauf aufpassen?"

„Natürlich", sagte Jitka. Warum wollte er so dringend, dass sie auf den Rucksack aufpasste? Vermutlich wurde er nun doch langsam nervös und das konnte sie gut verstehen.

„Besonders auf den Notenschlüssel ..." Seine Finger legten sich fester um Ihre.

„Den Notenschlüssel?", fragte sie. Was meinte er damit?

„Dein Notenschlüssel ... er hängt am Schlüsselbund für die Wohnung ..."

„Oh, ich verstehe ...", sagte sie. Er meinte wohl den USB-Stick, den sie ihm gegeben hatte. „Ich werde sehr gut darauf aufpassen."

„Wenn was ist, musst du ihn behalten."

„Erik, ich glaube nicht ..."

„Ich habe gestern noch ein paar Ordner draufgeschoben. Die sollen zu dir", fügte er hastig hinzu. Jitka nickte. Was das wohl war? Vielleicht seine eigene Musik. Das schien ihr am plausibelsten. Und er wollte, dass sie das alles bekam, falls ... Irgendwie behagte ihr gar nicht dabei, seine Gedankengänge nachvollziehen zu wollen. Sie glaubte zu wissen, was er sich vorgestellt hatte. Sie musste an das Gespräch gestern auf dem Friedhof denken ...

„Aber das ist vermutlich gar nicht notwendig", versuchte Jitka es noch einmal.

„Bist du gar nicht neugierig, was da drauf ist?", fragte Erik hingegen.

„Natürlich bin ich das", entgegnete Jitka und legte den Kopf ein wenig schief.

„Dann kannst du ja reinschauen", sagte er und lächelte sie an. Dann gähnte er, seine Hand fuhr leicht über ihr Gesicht und dann schloss er die Augen. Es sah aus, als wäre er für den Moment losgeworden, was er loswerden wollte. Seine Atemzüge wurden ruhiger und im nächsten Moment schien er wieder eingedöst zu sein. Sie nahm seine Hand in Ihre und betrachtete ihn noch eine ganze Weile. Irgendwann schlief auch sie im Sitzen ein.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt