76. Kapitel: Der Weihnachtskarpfen

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Karina kramte in ihrer Reisetasche nach der weihnachtlich nach Orangen und Zimt duftenden Badebombe, die sie sich extra für den Anlass angeschafft hatte, und summte in Vorfreude auf das heiße Bad eine Melodie, die sich seit der Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium vor einigen Tagen in ihrem Kopf festgesetzt hatte. "Jauchzet, frohlocket ...", sang sie vor sich hin. In der Alt-Stimme. Sie hatte die Aufführung nicht vom Pult aus miterlebt. So war das, wenn mehrere Dirigenten zuständig, und man selbst nicht die Wichtigste unter ihnen war. Dann durfte man sich zwar während der Proben abmühen, die großen Aufführungen gehörten nach wie vor dem Boss.

Zudem hatte die momentan grassierende Grippewelle die Stimmen des Chors der Reihe nach ausgeschaltet und man hatte in allen Stimmgruppen händeringend nach Leuten gesucht, die einigermaßen in der Lage waren einzuspringen. Sie kannte das Werk schließlich und hatte aus früheren Chor-Zeiten die Alt-Stimme noch halbwegs parat. Etwas auffrischungsbedürftig, aber nach einigen Proben saß auch das wieder. Außerdem hatte es Spaß gemacht wieder einmal im Chor zu singen. Früher war sie leidenschaftliche Chorsängerin gewesen, aber dafür blieb ihr jetzt nicht mehr wirklich die Zeit. Bis auf solche erfreulichen Ausnahmen.

Sie ließ ihre Kleider zu Boden fallen und wickelte sich in ihren flauschigen Bademantel. Darauf hatte sie sich schon die ganze Woche über gefreut. Zu Hause hatte sie ja keine Badewanne, doch während der Feiertage war sie im fast fertigen Haus ihrer Schwester zu Gast, die ihr die Vorzüge des endlich fast fertig installierten Badezimmers bereits telefonisch angepriesen hatte. Mit der Badebombe, sowie einigen Toiletteartikeln in einem Stoffbeutel machte Karina sich also, weiter vor sich hin summend, auf den Weg ins Bad. Drinnen brannte bereits Licht. Da war ihr wohl jemand zuvorgekommen. Sie wagte einen vorsichtigen Blick und entdeckte dort nur ihre kleine Nichte Tereza, die sich über den Rand der Wanne beugte und darin herumplanschte. Als Karina einen Schritt näher trat, entfuhr ihr ein angeekelter Schrei.

"Was soll das?", rief sie. In der Badewanne drehte ein stattlicher Fisch seine Runden. Sehr zur Freude von Tereza, die vor Nässe triefte, und begeistert mit dem Vieh planschte. Doch nun blickte sie Karina mit ängstlichem Gesichtsausdruck an.

"Nicht Mama sagen!", bettelte sie Karina eindringlich an.

"Was soll ich ihr nicht sagen?"

"Ich darf nicht mit ihm spielen", sagte sie und schob trotzig die Unterlippe vor. "Du kriegst ein Keks, wenn du nichts sagst." Sie hielt ihr die kleine Hand offen hin, in der noch die Reste von Weihnachtskeksen klebten. Jetzt bemerkte Karina auch die quer durch das Bad verteilten Krümel von denen die meisten bereits aufgeweicht in der Wanne schwammen, wo der Karpfen danach schnappte.

"Er will auch Frühstück haben," erklärte ihr Tereza. "Er mag Lebkuchen und die mit Kokos mag er auch."

"Lieb von dir, dass du ihm Frühstück gibst", sagte Karina, nachdem sie ihren anfänglichen Schock überwunden hatte. "Aber ich glaube gerne, dass deine Mami, sich nicht drüber freut." Vor allem nicht über die quer durchs Badezimmer verteilten Keksbrösel. Sie selbst war ja bereit dem armen Vieh seine Henkersmahlzeit zu gönnen. Tereza blickte sie kurz mit schuldbewusster Miene an und beugte sich dann wieder über den Rand der Wanne, um den Karpfen zu streicheln. Karina kniete sich auf den Boden und friemelte die Keksreste, so gut es ging, aus der extra-flauschigen Badezimmermatte und warf sie zum Fisch in die Wanne.

"So Madame", sagte sie dann und schnappte sich ihre kleine Nichte. "Wir ziehen dir jetzt was Trockenes an, und wenn deine Mami fragt, sagen wir, ich habe dich unabsichtlich mit dem Zahnputzbecher angespritzt." Tereza grinste und nickte.

"Darf ich mir aussuchen, was ich anziehe?"

"Sicher."

Eine gefühlte Ewigkeit später, Karina hatte unterschätzt, wie lange es dauerte, einem Kind Hose, Pulli und Socken umzuziehen, kamen die beiden zu Jana in die Küche.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt