94. Kapitel - Die Seen

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Vom Friedhof zu den Seen waren es keine fünfhundert Meter, aber heute schien der Weg nicht enden zu wollen. Erik konnte sich kaum vorstellen, dass Jitka nicht bemerkt hatte, dass ihm nun alles immer schwerer fiel. Doch sie unterließen es beide diesen Umstand zu kommentieren. Sie wusste doch, dass er so vernünftig sein würde um rechtzeitig aufzugeben.

Und ihm war nur allzu bewusst, dass er ihr auf dem Friedhof mit seinem dummen Gerede Angst eingejagt hatte. Warum nochmal hatte er es für eine gute Idee gehalten, mit ihr dorthin zu gehen? Einfach eine dumme Eingebung. Vorhin hatte sich das so richtig angefühlt, aber jetzt tat es das nicht mehr. Und vor seinem inneren Auge sah er Sylvie, die ihn wortlos und mit hochgezogener Augenbraue ansah. Das irritierte ihn noch mehr.

Er fühlte sich atemlos, jeder Schritt wurde anstrengender als der vorhergehende und er bemühte sich, nicht zu schwer an Jitkas Seite zu hängen. Er versuchte, sie zum Reden zu animieren, damit es nicht so auffiel, aber er konnte sie nicht für dumm verkaufen. Aber für den Moment spielte sie mit. Sie tat so, als wäre alles wie immer. Nun ja, das war es vermutlich auch. Fast.

Seit sie einander kannten, war er ständig irgendwie angeschlagen gewesen. Immer wieder fragte er sich, warum sie das nicht abschreckte. Es waren schließlich schon bessere Exemplare bei ihr vorstellig geworden. Oft konnte er sich davon abhalten sich mit solch müßigen Fragen herumzuschlagen, aber wenn er gerade so einknickte, verabschiedeten sich häufig sein Optimismus und seine Vernunft, und somit die Filter, die ihm die Negativität vom Leibe hielten.

Dabei sollte er froh sein. Sie hatten jetzt fast alles erledigt, was er sich vorgenommen hatte. Viel war das nicht gewesen und, dass ihn das überfordern würde, hatte er auch vorher schon gewusst. Sie waren allerdings weiter gekommen, als er gedacht hatte.

„Schau, hier ist eine Bank", sagte Jitka. „Wollen wir uns da hinsetzen." Er nickte und ließ sich von ihr mitziehen. Als sie sich niederließen, umklammerte sie seinen Arm und lehnte sich an ihn, während sie über das Wasser blickte, das ruhig und blau vor ihnen lag und auf dem Schwäne und andere Wasservögel ihre Bahnen zogen. Auf der anderen Seite spiegelten sich die mächtigen Gründerzeitbauten, die wie Burgen wirkten mit ihren vielen Türmchen.

„Ich hoffe, du bis nicht enttäuscht", sagte er. „Das hast du dir bestimmt großartiger vorgestellt." Im Grunde waren die Seen ja doch nur ein einbetonierter Wasserarm. „Und in Prag habt ihr Schwäne mit beeindruckenderem Hintergrund." Er dachte an die Stelle am Moldauufer, die sie ihm gezeigt hatte. Mit dem Ansichtskartenblick auf die Altstadt und der Jahrhunderte alten Karlsbrücke im Hintergrund. Dagegen war das hier doch langweilig. Vielleicht hübsch als Panorama für Spaziergänge und Laufrunden, aber es gab in der Stadt vermutlich Orte, die sich besser eigneten, um Besuchern gezeigt zu werden.

„Wir hätten lieber in den botanischen Garten gehen sollen", überlegte er bedauernd. „Dort wäre es vielleicht doch schöner gewesen."

„Das können wir ja immer noch irgendwann", sagte sie und er spürte ihre Hand an seiner Wange. „Und jetzt mach deinen See nicht so runter, ich finde es schön hier. Und mir geht es ja nicht darum, das größte touristische Highlight von Kopenhagen zu entdecken, sondern weil ich da sein will, wo du immer bist. Du bist so oft hier entlang gegangen, wenn wir miteinander geredet haben und du hast mir alles mit deinem Handy gefilmt. Aber das ist nicht das Gleiche, du wolltest mir doch dein Kopenhagen zeigen, hast du gesagt. Und das hier ist für mich ein Teil von dir."

„Ja", sagte er und legte seine Wange an ihren lockigen Kopf. Zumindest war es das einmal gewesen, fügte er in Gedanken hinzu, wer wusste schon, ob es das jemals wieder sein würde. Oder ob er wirklich irgendwann einmal mit ihr hier entlang um den ganzen See wandern würde. Aber er wollte hier nicht seine Negativität versprühen, das würde nichts besser machen. Diese Zweifel behielt er lieber für sich, so als würden sie dadurch weniger wirklich.

„Es gibt hier so ganz kitschige Tretboote in Schwanform. Im Sommer zumindest", sagte er schließlich.

„Au ja, das wär' was für mich!", sagte sie. „Das machen wir dann auch einmal." Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie er mit Jitka in so einem Boot saß. In der Vorstellung funktionierte das ja, und irgendwo hatte er gehört, dass man sich die Dinge, die man einmal erleben wollte, nur so plastisch wie möglich vorstellen musste, dann würden sie auch Wirklichkeit werden. Aber vermutlich war das anders gemeint und für seinen Fall war diese Binsenweisheit wohl auch nicht gedacht.

Während sie auf der Bank saßen, versicherte sie ihm wiederholt, dass sie diesen Ort hier ganz wunderbar fand. Und im Grunde konnte er ihr beipflichten, er war doch immer sehr gerne hier gewesen. Es war doch nur die Erschöpfung, die ihn gerade alles ganz blöd und einfältig finden ließ. Das würde vergehen.

„Dir ist kalt, oder?", sagte sie schließlich. „Lass uns zu dir in die Wohnung, dort können wir uns aufwärmen." Ihm war die ganze Zeit über kalt gewesen, aber mittlerweile ließ sich das kaum verbergen, und er konnte die Kälte selbst auch nicht mehr ignorieren. Trotz der warmen russischen Handschuhe.

„Wir können den Bus nehmen", sagte er, als sie von der Bank aufstanden.

„Gut", sagte sie und hängte sich bei ihm ein. Sie machte kein Theater, fragte ihn nicht ständig, wie er sich fühlte und, ober sich vielleicht doch übernommen hatte und er war ihr dankbar dafür. Und beim Aussteigen aus dem Bus fragte sie ihn auch nicht, ob es wirklich so schlimm war, dass es ihm auf diese eine Station angekommen war. Immerhin mussten sie ja noch die Treppen zu seiner Wohnung hinaufkriechen.

„Ich Idiot", keuchte er, als sie endlich oben waren. „Eigentlich hatte ich unten beim Bäcker noch Zimtschnecken besorgen wollen, oder irgendwas zum Tee dazu. Bis auf Teebeutel habe ich gar nichts da ..."

„Dann spring ich noch mal schnell runter und hol uns was, gut?"

Er nickte. „Ich mach uns einstweilen Tee", sagte er. Er stellte den Wasserkocher hin und legte sich dann auf das Sofa. Nur um ein wenig zu verschnaufen. Irgendwann blickte er wieder auf und da wurde ihm klar, dass Jitka mittlerweile längst zurück war. Sie saß neben ihm auf einem Sessel und blätterte in irgendwelchen Noten. Vermutlich hatte sie die auf dem Klavier gefunden.

„Habe ich geschlafen?", fragte er und blinzelte sie an.

„Ich glaube schon. Als ich hereingekommen bin, hast du dich zumindest nicht gerührt", sagte sie und kam lächelend zu ihm auf das Sofa.

„Ich habe auch nichts bemerkt", antwortete er, rappelte sich langsam hoch und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht.

„Fühlst du dich jetzt etwas ausgeruhter?", fragte sie und er spürte ihre Hand, die ihm über die Schulter und über den Nacken strich. Er überlegte kurz und nickte dann. Er zog Jitka in seine Arme und hielt sie fest, während er den Moment auf sich wirken ließ. Hier seine Wohnung, einigermaßen aufgeräumt und warm geheizt. Er fühlte sich wohl hier, noch wohler, wenn Jitka hier mit ihm war. Am liebesten wollte er mit ihr hier bleiben und sie gar nicht mehr nach Prag zurückkehren lassen.

„Dein Telefon hat sich vorhin gerührt. Du solltest mal nachsehen", sagte Jitka. Widerwillig beugte er sich hinüber zum Tisch. Er hatte gerade keine Lust, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die außerhalb dieser Wohnung stattfanden. Im Moment wollte er nur hier sitzen und Jitka festhalten. War das zu viel verlangt? Aber er beschloss, sich wie ein erwachsener Mensch zu verhalten und nachzusehen, ob es wichtig war.

Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass er vor allem eine Abneigung dagegen verspürt hatte auf Sylvies Nachrichten zu reagieren. Diese hier kam aber von seiner Mutter, und so antwortete er schnell.

„Sie sagt, sie hat früher von der Arbeit gehen können, und fragt ob sie uns mit dem Auto holen soll. Ich habe ihr geschrieben, wir kommen mit der Bahn. Aber weißt du, noch lieber würde ich einfach mit dir hier bleiben und gar nicht zurückfahren." Er streckte die Beine und stand dann auf. Etwas taumelig fühlte er sich immer noch, aber das war fast normal. Er war jetzt zumindest nicht mehr so erschöpft, dass er das Gefühl hatte, sich keinen Schritt mehr bewegen zu können. Dann ging er in seine Kochecke, widmete sich wieder dem Wasserkocher, in dem das Wasser nur noch lauwarm war. „Jetzt trinken wir erst mal Tee und dann könnten wir ja noch ein wenig Klavierspielen und dann sehen wir nach, wann die nächste Bahn geht. Uns läuft nichts davon." Und den Moment, in dem sie wieder mit Sylvie im Wohnzimmer saßen, wollte er gerne noch hinauszögern.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt