Erik wusste nicht mehr, wie lange er schon hier lag. Die Gesichter tauchten vor ihm auf und verschwanden wieder. Er hatte irgendwann gemerkt, dass Sylvie und Karina weg waren. Er hatte Mama auch nach ihnen gefragt, und sie hatte es ihm bestimmt gesagt, aber jetzt konnte er sich nicht mehr an ihre Antwort erinnern und er wollte nicht noch einmal fragen.
Einmal schlief Jitka auf dem Sessel neben ihm, dann hielt sie seine Hand und sah ihn an. Sie saß manchmal auf der einen Seite und dann wieder drüben, neben seiner Mutter und sie redeten leise miteinander. Er hatte sich an die Leute gewöhnt, die immer wieder kamen, an ihm herumzupften und drückten oder ihm Fragen stellten, auf die er dann irgendwelche Antworten gab. Oder Mama antwortete für ihn. Das ließen sie meist auch gelten, je nachdem, worum es ging.
Am Rande bekam er mit, dass noch irgendein Papierkram zu erledigen war, den er nicht richtig verstand, aber alles zusammen hieß wohl, dass es bald losgehen würde. Das war ihm nur Recht. Er wollte das jetzt hinter sich bringen. Immer wieder hörte er Mamas und Jitkas Stimmen, die ihm sagten, dass alles gut gehen würde. Natürlich würde es das. Aber warum mussten sie das so oft betonen, wenn es ohnehin klar war? Er hatte viel darüber nachgedacht, was sein würde, wenn es nicht gut ging. Wenn er das hier nicht überlebte. Sylvie hatte ihm gesagt, das seien Gedanken, auf die man sich besser gar nicht einließ, dann hatten sie nicht mehr davon gesprochen. Auch wenn er wusste, dass sie ebenfalls darüber nachdachte. Nur anders als er.
Er hatte herausfinden wollen, was es denn genau war, das ihm Angst machte und es war ihm nicht gelungen der Sache vollständig auf den Grund zu gehen. War es der Gedanke, alle zurückzulassen? Oder die Ungewissheit, ob da noch etwas kommen würde, oder ob es dann aus war? War man wirklich einfach fort, so wie Sylvie meinte? So als hätte es einen nie gegeben? Vielleicht war das wirklich die Frage, die ihm die meiste Angst machte. Er glaubte nicht, dass das so war. Oder wollte er es nicht glauben? Und so kehrte er immer wieder zu dieser Frage zurück. Allerdings hatte er nicht vor, jetzt die endgültige Antwort darauf zu finden. Oder überhaupt herauszufinden, ob es auf solche Fragen eine Antwort gab. Das würde er ganz sicher irgendwann, aber vielleicht nicht so schnell.
„Jetzt ist es bald soweit", hörte er Jitkas Stimme neben sich. „Toitoitoi", sagte sie und küsste ihn und irgendwie amüsierte ihn der Gedanke, dass sie das sagte.
„Du sagst das, als müsste ich gleich raus und Tschaikowsky spielen ...", sagte er mit einem schiefen Lächeln. Es hinter sich bringen zu wollen, war die eine Sache, aber irgendwie passte der Vergleich. Er fühlte sich ähnlich, als wie wenn er gleich raus an einen polierten Konzertflügel müsste. Das Orchester hinter ihm, das Publikum vor ihm. Und er wusste, dass nichts dagegen sprach, dass alles gut gehen würde. Doch je näher das Konzert kam, desto mehr Gründe fanden sich dafür, dass es absolut schief gehen musste. Ein verpatztes Konzert war noch nicht das Ende der Welt, auch wenn er das vor einem Jahr bestimmt so gesehen hätte. Aber das hier war anders. Wenn das hier schiefging waren die Folgen gravierender und er konnte nichts tun außer einschlafen und hoffen, dasser irgendwann wieder aufwachte.
Vielleicht waren die Voraussetzungen für diese Operation irgendwann einmal nicht so schlecht gewesen, aber heute hatte er immer wieder Dinge aufgeschnappt, die ihn jetzt doch daran zweifeln ließen. Er wusste doch, dass es ihm ihn nicht gut ging. Zwar tat ihm momentan nichts weh und er konnte einigermaßen atmen. Der Druck auf der Brust war noch da, schwerer als sonst, aber bei Weitem nicht so schlimm wie vorhin. Aber er nahm das alles nur mehr wie durch eine dicke Nebelsuppe wahr. Vermutlich waren das die Medikamente, die er bekommen hatte, damit alles irgendwie erträglich blieb.
„Wenn du das hinter dir hast, dann muss ich dir endlich dein Tschaikowsky-Trauma austreiben", sagte Jitka und er spürte ihre Arme um sich.
„Ich kann auch ohne Tschaikowsky leben", murmelte er und lehnte lächelnd seinen Kopf an sie.
„Das wäre aber schade." Er spürte ihre Hand an seiner Wange. „Aber im Moment solltest du lieber nicht an Tschaikowsky denken."
„Hmm", machte er. Er erkannte Jitkas Geruch und er drückte sein Gesicht noch etwas mehr an ihre Hand. Jitka war ihm lieber, als dieser beißende Krankenhausgeruch, der sich vermutlich ohnehin schon überall an seinem Körper festgesetzt hatte. „Ich brauche sowieso keine Noten. Wir spielen wieder nachts im Schlafzimmer, nur wir zwei. Da sieht man die Noten gar nicht. Weißt du noch?"
„Oh ja, das war schön", sagte sie. Es fiel ihm immer schwerer die Augen offen zu halten, doch er konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören. „Das müssen wir bald wieder machen", sagte sie und er nickte.
Irgendwoher hörte er jetzt eine andere Stimme, das war vermutlich wieder die Assistenzärztin. Er konnte sich ihren Namen nicht erinnern, aber an die Stimme. Sie machte sich wieder an seinem Infusionszugang zu schaffen. Es sei nun wirklich bald soweit. Wie oft hatte er das jetzt schon gehört? Und er würde bald recht müde werden. Er spürte Jitka noch einmal etwas enger an sich. Sie küsste ihn noch einmal und ihre Umarmung, stimmte ihn zuversichtlich. Wie konnte denn etwas schiefgehen, wenn sie ihn festhielt. Auch wenn er wusste, dass sie ihn wohl bald wieder loslassen musste. Er spürte auch die Hand seiner Mutter auf seinem Gesicht, und ihre Stimme, die ihm leise und in beruhigendem Tonfall irgendwas sagte. Die Ärztin hatte jedenfalls nicht zu viel versprochen. Er gähnte noch einmal, doch dass Jitka ihn bald tatsächlich losließ und er hinausgeschoben wurde, bekam er nicht mehr mit.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Художественная прозаManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...