30. Kapitel

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Die zweite Septemberwoche tauchte Kopenhagen in graue Wolken und Nieselregen. Erik war damit ganz zufrieden, auch wenn es das Radfahren mühsamer machte. Die Hitze der letzten Wochen war kaum noch auszuhalten gewesen. In Italien hatte er im August nichts anderes erwartet. Doch nach seiner Rückkehr hatten selbst hier in Dänemark ungewöhnlich hohe Temperaturen geherrscht. Der Regen und das Herbstwetter waren ihm mehr als willkommen. Er schob sein Rad in den Innenhof des Gebäudes, in dem das Tonstudio lag, und kettete es an den überdachten Fahrradständer.

Heute warteten mehrere Aufträge auf ihn. Er sollte in einer halben Stunde einen Tenor begleiten. Ein Schubert-Lied und eine Donizetti-Arie als Demo für dessen Online-Auftritt. Bei solchen Aufträgen wurden gerne beide Tonspuren gleichzeitig eingespielt. Immerhin kam es auf die Interaktion zwischen Stimme und Klavier an und das war für Erik eine Herausforderung, die ihm gefiel. Es war etwas anderes, als selbst der Solist zu sein, jedoch oft nicht weniger anspruchsvoll oder interessant.

Es kam teilweise auf andere Fertigkeiten an, und viele Pianisten nahmen es eher als notwendiges Übel in Kauf, dass man hie und da begleitete. Dabei waren die Begleitsätze oft recht raffiniert und gleichwertig mit der Gesangsstimme zu sehen. Man ließ sich musikalisch auf den Sänger ein, setzte sich mit dem Text auseinander, und versuchte, die Stimmung des Liedes gemeinsam zu transportieren. Er hatte den Job hier vor allem bekommen, weil ihm die Liedbegleitung gut lag. Er hatte sich bereits während des Studiums auch immer wieder mit diesem Aspekt des Klavierspielens beschäftigt. Und das hatte nun den Nebeneffekt, dass ihn Sänger auch manchmal für ihre Liederabende anfragten und weiterempfahlen. Sie waren froh, wenn sie einen Pianisten hatten, mit dem sie gut zusammenarbeiten konnten.

Später sollte er dann noch einen Jingle für einen Radiobeitrag einspielen, sowie einige Arrangements, die er für einen weiteren Radiobeitrag ausgearbeitet hatte. Auch das kam immer wieder vor und es machte ihm mehr Spaß als erwartet: Manchmal klang die vorgesehene Musik einfach nicht, wie ein Regisseur sich das vorstellte. Dann konnte es passieren, dass Erik den Auftrag bekam, das Arrangement zu bearbeiten und einige Versionen zur Auswahl anzufertigen. Er mochte all diese unterschiedlichen Aufgaben. Es war ein kleines, spezialisiertes Studio, in dem jeder alles mögliche machte. Je länger er dabei war, desto mehr lernte er über die technische Seite der Musikproduktion und so konnte er in immer mehr unterschiedlichen Bereichen aushelfen.

Er betrat den Vorraum und machte sich daran, seine Regensachen auszuziehen, da tönte ihm auch schon eine bekannte, wenn auch überraschende Stimme entgegen: "Da ist er ja! Auf dich habe ich gewartet, Erik", rief ihm Troels Eldrup entgegen. Der Regisseur vom "Hotel zu den zwei Welten", er hatte ihn seit den Aufnahmen vor ein paar Monaten nicht mehr gesehen.

"Auf mich?", fragte er verwundert. "Tut mir leid, ich hatte vorher einen Termin und wusste nicht, dass du hier wartest ..."

"Das hat mir deine Chefin auch gesagt. Hast du einen Moment? Gehen wir ins Besprechungszimmer."

Erik nickte. Er hängte seine nasse Jacke an die Garderobe, zog sich die Schuhe aus, und ging dann mit. Troels redete viel und laut, aber er konnte ihn gut leiden, und die Arbeiten an dem Hörspiel, waren eine der spannendsten Aufgaben gewesen, die er bisher hier im Studio gemacht hatte.

"Also", sagte Troels, nachdem sie sich hingesetzt hatten. "Deine Aufzugmusik ist bei allen Beteiligten super angekommen, ich sag dir, das wird ein Hit, wenn das Hörspiel nächste Woche ausgestrahlt wird."

"Nächste Woche", rief Erik erfreut. "Ich bin gespannt." Und etwas nervös, beim Anhören würden ihm bestimmt hundert Dinge auffallen, die gar nicht passten. Aber er war schon wahnsinnig neugierig auf das Endprodukt.

"Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich gekommen bin. Wie schauen deine Pläne für das nächste Jahr aus, Erik?"

Erik öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Mit der Frage hatte er nicht gerechnet und sie erwischte ihn irgendwie am falschen Fuß. Erwartete Troels eine ehrliche Antwort, oder war es ohnehin eine rhetorische Frage?

"Also, so genau kann ich das noch nicht ..."

Troels sah ihn forschend an. "Als wir uns zuletzt unterhalten haben, hast du mir erzählt, du bleibst hier spätestens bis Herbst."

"Nun ja, genaugenommen ist es noch nicht einmal Herbst, und ..."

"Ich will nur sichergehen, dass du nicht bis ans Ende deiner Tage hier kleben bleibst."

"Schön, dass du dir Gedanken machst, aber so einfach ist das auch nicht. Im Oktober spiele ich bei einem Konzert in Prag und dann wird sich weisen, was sich ergibt." Warum mischte der sich überhaupt ein?

"Was sich ergibt? Soso. Versprichst du mir, dass du nicht einer von denen wirst, die den Weg des geringsten Widerstands gehen und wenn sie alt und versoffen sind, über ihre verpassten Chancen lamentieren."

Erik versuchte ein schiefes Lächeln. "Ja, ich glaube, soviel kann ich versprechen." Troels nickte nur.

"Also, ich hätte einen Auftrag für dich", sagte er dann.

"Machst du ein neues Hörspiel?"

"Eines? Haha!" Er blickte Erik triumphierend an. "Das wird ein Riesenprojekt. Eine Serie. Andersens Märchen. Und zwar alle hundertsechsundfünfzig. Fürs Radio und gleichzeitig als Podcast in der Radioapp des Senders." Erik schaute ihn mit großen Augen an. Nebenan hörte man, wie der Tenor, sich einsingend, Tonleitern hinauf und hinunter trällerte.

"Natürlich nicht alle auf einmal. Sechs davon sollen nächstes Jahr ins Weihnachtsprogramm. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, ganz klassisch, am heiligen Abend. Anschließend wechseln wir bekannte und weniger bekannte ab. Dann muss man sehen, wie die Sache ankommt. Ich will, dass du mir die Musik dazu schreibst. Eine Kennmelodie für Anfang und Schluss, zudem braucht jedes Märchen seine eigenen Melodien, Leitmotive, und so weiter. Die Produktion beginnt in der ersten Hälft des nächsten Jahres. Du musst dich nicht sofort entscheiden, aber ich will es trotzdem möglichst bald wissen."

Erik schaute die Tischplatte an und überlegte. "Das klingt auf jeden Fall interessant", sagte er zögernd. "Aber es gibt da noch eine Sache, die ich vorher abwarten möchte ..."

"Ah, dein geheimnisvoller Termin heute Vormittag, über den mir deine Chefin auch nichts erzählen wollte?" Dafür, dass er ihn kaum kannte war Troels ganz schön aufdringlich und neugierig.

"Sie kann nicht sagen, was sie nicht weiß", sagte Erik kurz angebunden, und fügte dann schnell hinzu. "Ich glaube nicht, dass es da Überschneidungen geben wird, aber sicher ist sicher ..."

"Dann hast du doch noch ein paar Projekte an der Angel, alles andere würde mich bei einem, wie dir dann doch wundern."

Erik hatte keine Zeit mehr zu antworten, denn da klopfte Lis, seine Chefin, an die Tür und teilte ihm säuerlich mit, dass der Tenor längst bereit für die Aufnahme sei.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt