105. Kapitel - Bei Sylvie daheim

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Die Taxifahrt dauerte nur wenige Minuten. Während sie auf der Rückbank saßen, streckte Karina ihren Arm nach Sylvie aus und legte ihr die Hand auf die Schulter. Zuerst schüttelte Sylvie sie nicht einmal ab, sondern lehnte sich ein wenig an sie und drückte ihre Wange in Karinas plüschigen Mantel. Ihre Tränen liefen noch immer, sie schluchzte manchmal auf und wurde jetzt von garstigem Schluckauf geplagt. Aber es dauerte nur einen Moment bis sie sich anscheinend daran erinnerte, dass sie keinesfalls anlehnungsbedürftig sein wollte. Sie richtete sich wieder auf und blieb für den Rest der Fahrt mit geradem Rücken sitzen und versuchte zum hundertsten Mal vergeblich, ruhig zu werden.

Karina bezahlte den Taxilenker, sie stiegen aus, und Sylvie dirigierte sie mit Müh' und Not zur richtigen Wohnungstür. Sie war ziemlich wackelig auf den Beinen und Karina hielt sie fest, aus Angst, sie könnte einfach umkippen. Karina betrat mit ihr die Wohnung, sah sich kurz um, und beschloss, sie dann einmal auf das weiße Wohnzimmersofa zu bugsieren, das sie direkt vor sich entdeckte. Sie hatte sich wirklich gewünscht Sylvies Wohnung unter erfreulicheren Umständen kennen zu lernen. Doch im letzter Zeit schienen ihre Wünsche sich immer nur auf die denkbar schrecklichste Weise zu erfüllen.

Sylvie ließ sich auf die weiche Bank sinken. Sie zog die Beine hoch und legte ihre Stirn auf die Knie. „Ich kann nicht mehr," murmelte sie. „Mein Kopf tut schon so weh vom Weinen. Und mir ist schlecht. Aber ich kann trotzdem nicht aufhören." Karina hielt sie einen Moment lang fest und strich ihr über den Rücken.

„Vielleicht solltest du ein Glas Wasser trinken. Das hilft manchmal. Gegen die Kopfschmerzen zumindest. Du bist sicher dehydriert, das Weinen, der ganze Kaffee ... Hast du was anderes als Kaffee auch getrunken?" Sylvie zuckte nur mit den Schultern, nahm das Glas, und starrte es eine Weile lang an, ihr Gesicht schien währenddessen noch bleicher zu werden. Sie drückte es Karina wieder in die Hand, rappelte sich auf und ging quer durchs Zimmer, um hinter einer Tür im Vorzimmer zu verschwinden. Vermutlich das Bad oder WC.

Karina blieb etwas ratlos sitzen und sah sich um. Die Wohnung sah aus, wie sie sich das vorgestellt hatte. Weiße Möbel, ein paar geschmackvolle Details, eher zu wenige davon, als zu viel. Große Fenster und einen Balkon von dem man, wie Karina wusste, tagsüber einen schönen Blick auf die Stadt und zu den Seen hatte. Keine preisgünstige Lage, auch das wusste Karina, aber Sylvie hatte zu Spitzenzeiten mit den vielen Engagements und CD-Aufnahmen verboten gut verdient, und es sah ihr ähnlich, dass sie es vernünftig fand, ihr Geld in einer schönen Stadtwohnung anzulegen.

Karina ging hinüber in die Kochecke, sie würde eine Kanne Tee machen. Dann hatte sie etwas zu tun, und so ein warmes Getränk, das kein Kaffee war, würde Sylvie vielleicht gut tun. Sylvies Küche war so systematisch sortiert, dass es nicht schwer war, die ordentlich beschriftete Schachtel mit den verschiedenen Teesorten zu finden. Nur lose Tees, keine Teebeutel. Natürlich. Eine Auswahl an russischen und englischen Schwarztees, sie fand schließlich auch eine Schachtel Kräutertee und füllte etwas davon in einen der Filterbeutel, die sie gleich neben der Teeschachtel fand.

Sie hatte den Tee gerade aufgegossen, als sie von nebenan Geräusch hörte, das klang, als müsste Sylvie sich gerade übergeben. „Sylvie!", rief sie und eilte zu ihr hinüber. Als sie im Vorzimmer stand, hörte sie bereits die WC-Spülung, die Tür ging auf und Sylvie lief, ohne sie anzusehen ins Bad und begann sich gründlich die Zähne zu putzen. Karina blieb einfach nur abwartend stehen. Als Sylvie ihre Zahnbürste fertig malträtiert hatte, öffnete sie den Badezimmerschrank und nahm eine Schachtel mit Kopfwehtabletten heraus.

Karina hatte solche Situationen ja selbst schon erlebt, in denen man weinen musste bis einem furchtbar schlecht wurde und man davon Kopfschmerzen und alle Zustände bekam. Das passierte vermutlich jedem hie und da. Außer Sylvie. Zumindest hatte sie immer gedacht, Sylvie sei immun gegen jede Emotion, die sich anschickte sie hinterhältig überwältigen zu wollen. Viel zu rational.

„Ich habe Tee gemacht", sagte sie schließlich, woraufhin Sylvie es schaffte sie müde anzulächeln. Sie hatte nun keine Tränen mehr im Gesicht. Nur das krampfhafte Aufschluchzen und der Schluckauf waren noch da.

„Danke", sagte sie und berührte kurz Karinas Hand. „Ich glaube ich bringe im Moment nichts runter. Trotzdem danke. Es ist schecklich von mir, dir das hier zuzumuten. Normalerweise ..."

„Das hier ist nicht normalerweise. Und manchmal ist sowas eben notwendig."

Sylvie schüttelte nur den Kopf. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch gleichzeitig begann sie wieder zu schwanken. Sie stützte sich an der Wand ab und ließ sich dann auf dem Rand der Badewanne nieder. Schließlich half Karina ihr auf und begleitete sie zurück ins Wohnzimmer.

„Immer noch nichts mit Schlafen?"

Sylvie schüttelte wieder heftig den Kopf. „Wie soll ich schlafen? Ich kann jetzt doch nicht schlafen."

„Aber du bist schrecklich müde. Ich wecke dich, wenn was ist. Versprochen."

Sylvie seufzte, dann kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Telefon und wählte eine Nummer. Offensichtlich die ihrer Mutter. Sie nuschelte irgendwas schnelles Undeutliches auf Dänisch, einer Sprache, in der alles so genuschelt und undeutlich klang, dass es Karina rätselhaft vorkam, wie man überhaupt einzelne Worte in einem Satz ausmachen konnte.

„Erik schläft noch immer. Aber es scheint im Moment alles zu passen", berichtete sie, nachdem sie aufgelegt hatte, mit tonloser Stimme und ohne besonders überzeugt zu klingen.

„Na komm, dann kannst du dich jetzt auch ein wenig ausruhen."

„Keine Ahnung, ob ich das kann. Aber ich will mich hinlegen und im Dunkeln verkriechen. Vielleicht gehen davon die Kopfschmerzen weg", murmelte Sylvie und taumelte in Richtung Schlafzimmer, Karina folgte ihr.

Dort stand ein breites Doppelbett. Karina konnte sich gut vorstellen, dass Sylvie es normalerweise genoss, sich hier ausbreiten zu können. Und bis vor Kurzem hatte Vincent vermutlich regelmäßig hier übernachtet. Sylvie hatte ihn nicht oft erwähnt, aber von den wenigen Malen, als von ihm die Rede war, hatte Karina verstanden, dass er wichtig war. Auch jetzt noch. Sie fragte sich, ob sie jemals mehr darüber erfahren würde und ob sie das überhaupt wollte. Es gab so vieles über Sylvies Leben hier, das sie nicht wusste. 

„Ich hatte echt nicht vor, dir so ein Jammerspiel anzutun", seufzte sie. "Ich weiß selbst nicht was in mich gefahren ist." Sie ließ ihre Kleidung einfach auf den Boden fallen und kroch im Unterhemd unter die Decke, ohne sich noch einen Pyjama rauszusuchen. Karina setzte sich an das Fußende des Betts, sie konnte gut verstehen, was in Sylvie gefahren war, aber das war nicht der Moment, um ihr das zu erklären.

„Kannst du mich bitte alleine lassen?", bat Sylvie, während sie sich zur Seite drehte und einrollte.

„Ja, natürlich," sagte Karina und stand auf. Sie wäre gerne geblieben, hätte Sylvie festhalten und sie in ihren Armen einschlafen lassen wollen. Aber sie wusste, dass sowas bei Sylvie nicht funktionierte, nicht immer. Sie konnte gut verstehen, dass sie jetzt für sich selbst sein wollte. Karina wollte sich gerade umdrehen und fragen, ob sie noch irgendwas brauchte, da rief Sylvie sie schon zurück.

„Karina? Bleib da", sagte sie. „Ich kann jetzt doch nicht alleine sein."

„Wie du magst", erwiderte Karina.

„Tut mir leid", murmelte Sylvie leise. „Dass ich so ... ich weiß auch nicht, warum ..."

„Sssch ...", machte Karina einfach, sie ließ ebenfalls ihre Sachen auf den Boden fallen und legte sich neben sie. „Du musst mir nichts erklären."

Sylvie sprang noch einmal hoch, um die Vorhänge zuzuziehen, dann ließ sie sich wieder auf das Bett fallen. Eine ihrer Hände wanderte hinüber und legte sich in Karinas Armbeuge, wo sie ruhig liegen blieb. Ihre Atemzüge wurden regelmäßiger und nur noch gelegentlich von Schluckauf unterbrochen. Sylvie war anscheinend trotz allem ausreichend erledigt, um bald einzuschlafen. Karina lag noch länger wach, bevor sie dann, zumindest für ein Weilchen, ebenfalls eindöste.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt