107. Kapitel - Unerwartete Begegnung

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Karina hatte sich eine Weile von einer Seite auf die andere gewälzt, ohne das Gefühl wirklich geschlafen zu haben. Sylvies Hand lag schon bald nicht mehr auf ihrem Arm, und die Decke war ihr auch irgendwann abhandengekommen. Wie schaffte Sylvie es eigentlich, ständig sämtliche Bettwäsche im Schlaf auf den Boden zu befördern?

Fröstelnd rappelte Karina sich auf. Das mit dem Schlafen würde heute ohnehin nichts mehr werden. Sie angelte sich ihr Handy, es war acht Uhr und draußen begann es noch nicht einmal hell zu werden. Keine neuen Nachrichten. War das gut oder schlecht? Einen Moment lang zog sie in Erwägung nach Sylvies Telefon zu suchen. Vielleicht hatte Sylvies Mutter ja irgendwelche Neuigkeiten geschickt. Aber hätte es etwas zu vermelden gegeben, dann hätte sich Jitka bestimmt längst auch bei ihr gemeldet, und Magrethe ebenfalls.

Sylvie rührte sich hie und da neben ihr und gab ein undeutliches Brummen von sich, sie schien jedoch zu schlafen. Sie lag auf dem Bauch, die eine Hälfte ihres Gesichts fest in den Kopfpolster vergraben. In der einen Armbeuge, die halb aus dem Bett hing, hatte sie noch einen Zipfel der abgeworfenen Bettdecke eingeklemmt. Die andere lag irgendwo am Fußende des Bettes und als Karina sie aufhob, sah sie, dass sich auf Sylvies nackten Beinen eine Gänsehaut gebildet hatte. So leise und vorsichtig sie nur konnte, deckte sie Sylvie wieder zu, dann schlich sie aus dem Zimmer und schloss die Tür.

Im Wohnzimmer zog sie sich ihren Pulli über, aber ihr wurde immer noch nicht richtig warm. Schließlich fand sie im Vorzimmer den Regler für die Heizung. Sylvie hatte für die Zeit, die sie nicht in ihrer Wohnung verbrachte, die Temperatur heruntergefahren und beim Heimkommen hatten sie kaum daran gedacht, diese wieder auf ein angenehmes Niveau zu stellen.

Karina nahm sich etwas von dem kalt gewordenen Kräutertee und sah sich in der Wohnung um. Die blitzblanke Kochecke hatte sie bereits gestern bewundert. Jetzt fielen ihr auch die hochmodernen, gut gepflegten Küchengeräte auf. Der Toaster, die Mikrowelle, die Kaffeemaschine. Sylvie schien hier wirklich sehr auf Qualität zu achten. Kein Wunder, dass sie über Karinas sowjetisches Uralt-Bügeleisen die Nase gerümpft hatte. Es war nicht so, dass Karina sich kein modernes Bügeleisen leisten konnte. Wenn sie unbedingt eines haben wollte, dann hätte sie sich das bestimmt angeschafft. Aber es war ihr nicht wichtig. Wenn ein Haushaltsgerät kaputt wurde, dann ersetzte sie es eben durch ein neues. Sie gab ihr Geld lieber für Noten, Reisen oder Musikinstrumente aus.

Auf der anderen Seite des Raumes stand die weiße Sitzecke mit dem dazu passenden Couchtisch. Darauf stand ein futuristisch wirkendes Weihnachtsgesteck: Eine silberne Schale, aus der kahle Äste mit roten Beeren dran ragten, und zusammen mit ein paar undefinierbaren getrockneten Blattranken eine rote Kerze umrahmten. Als sie die Äste berührte, spürte Karina, dass sie aus Kunststoff waren. Natürlich. Sylvie wollte bestimmt keinen brennbaren Weihnachtsschmuck, auch wenn sie die Kerze offensichtlich kein einziges Mal angezündet hatte.

Die Wohnung wirkte elegant, geschmackvoll und nirgends war ein Körnchen Staub zu sehen. Das einzige was verriet, dass hier ein echter Mensch wohnte, waren die Zeitschriften auf dem Beistelltisch und die gut gefüllten Bücherregale. Hier fanden sich eine Menge Nachschlagewerke, Biografien und Analysen zur russischen und osteuropäischen Politik und Geschichte. Auf russisch, es schien auch etwas ukrainisch dabei zu sein, dänisch, englisch und manches auch auf deutsch. Sie fand einige Romane in den vorherrschenden Sprachen des Regals und dazu passende Wörterbücher.

Daneben stand sich ein Tschechisch-Selbstlernkurs. Ein voluminöser Schuber mit einem Buch und mehreren CDs. Sie durchblätterte das Buch und sah anhand der Lesezeichen und der mit Bleistift eingetragenen Notizen, dass Sylvie schon bis zur Hälfte gekommen war und immerhin war dieses Buch in ganze zweiundneunzig Lektionen unterteilt. Sorgfältig stellte sie alles wieder ins Regal zurück. Sie hatte ein wenig Angst, hier etwas in Unordnung zu bringen.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt