119. Kapitel - Sie kam aus dem All

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Karina hatte nach der Arbeit geduscht, sich umgezogen und jetzt war immer noch etwas Zeit, bis Jitka kommen würde, um sie abzuholen. Sie hatten sich relativ spontan für den Abend verabredet, so funktionierte das am besten. Wenn sie langfristig planten, kam immer etwas dazwischen. Sie wollten ins Kino, dann vielleicht noch irgendwo ein Gläschen trinken.

Um die Zeit zu überbrücken nahm Karina sich ihr Cello her. Während der letzten Wochen hatte sie nicht viel Gelegenheit gehabt, sich hinzusetzen und einfach drauflos zu spielen, was sie sehr vermisste. Es war das Beste, um den Alltag für einen Augenblick abzuschütteln, Abstand von allem zu gewinnen und ein klein wenig zu sich selbst zu finden.

Natürlich hatte sie es sich selbst zuzuschreiben, dass sie kaum zum Verschnaufen kam. Sie hatte sich zuletzt kopfüber in die Arbeit gestürzt und sie wusste schon warum. Sie wollte etwas anderes zu tun haben, als sich ständig den Kopf zu zerbrechen. Darüber was in Sylvies Kopf wohl gerade vor sich ging. Ohne sich darüber zu ärgern, dass sie an ihrer glatten Fassade immer wieder abrutschte. Wo doch offensichtlich war, dass diese bereits jede Menge Sprünge hatte.

Ob es wohl besser war, hier mit Gewalt nachzuhelfen, oder darauf zu warten, dass diese Mauern irgendwann von selbst in sich zusammen bröckelten? Damit wieder die Sylvie zum Vorschein kam, in die sie sich verliebt hatte. Die brillant, verletzlich, humorvoll, neugierig und unternehmungslustig war. Und so vieles mehr. Doch jedes Mal wenn sie räumlich getrennt waren, drohte Sylvie ihr zu entgleiten. So als würde sie von ihrem Alltag verschluckt werden und von all den Dingen, die sie glaubte tun zu müssen. Und sie schloss Karina aus diesem Alltag aus. Sie seufzte und nahm sich vor, Jitka heute nicht schon wieder anzujammern. Sonst wollte die auch bald nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Mit geübten Fingern drehte sie an den Wirbeln, um die Saiten rasch nachzustimmen. Sie spielte einige Akkorde an, um den Klang zu überprüfen, und widmete sich mit geschlossenen Augen Bachs Cello-Suite in g-Moll, die sie auswendig kannte. Sie ließ sich von der Musik über die Zimmerdecke hinaus heben, über die vertrackten Umstände, die ihr durch den Kopf gingen und zu denen ihr im Moment keine gescheite Lösung einfiel. Brav folgte sie dem regelmäßigen Fluss der Töne. Als sie jedoch zu den schnellen Partien gegen Ende des Präludiums kam, ging es ein wenig mit ihr durch und sie verfiel ihren eigenen Improvisationen. Dabei war sie vollkommen im Hier und Jetzt, alles andere um sie herum war für den Moment unwichtig geworden.

Nur einen gefühlten Augenblick später riss das Türklingeln sie aus ihrer musikalischen Meditation. Sie schaute auf die Uhr und wunderte sich. Jitka war doch sonst nie so pünktlich. „Komme!", rief sie in Richtung Tür. Sie stellte Sophie in ihre angestammte Vorrichtung in der Ecke des Wohnzimmers und ging los, um zu öffnen.

Und dann erstarrte sie mitten im Schwung, denn draußen wartete nicht Jitka, sondern Sylvie.

„Ahoj", sagte Sylvie. Sie stand einfach auf dem Gang und sah sie an. Und Karina starrte zurück, sie musste eine ganze Weile lang ziemlich dumm aus der Wäsche geblickt haben und dann fragte sie auch noch: „Was machst du hier?" Sie hätte sich ohrfeigen können. Was Besseres fiel ihr nicht ein?

„Ich habe vor hier zu bleiben", sagte Sylvie. Wirklich? Hatte sie das wirklich gesagt?

„Bitte hau mir eine runter, damit ich weiß, dass ich nicht träume."

„Jetzt bilde dir bloß nicht ein, ich mach mir's in deiner Wohnung gemütlich. Der Posaunist ist noch mindestens ein halbes Jahr im Ausland und bis dahin ist noch viel Zeit."

Karina schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Sie fiel Sylvie um den Hals, drückte sie an sich und atmete ihren Duft ein. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass sie hier leibhaftig vor ihr stand. Erst als sich auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges eine Wohnungstür öffnete, offenbar wollte jemand nachsehen, was der Krach hier sollte, zog sie Sylvie zu sich in die Wohnung und schloss die Tür.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt