9. Kapitel

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Nach den Einheiten mit dem Professor am Vormittag hatte Erik sich für zwei Stunden einen Proberaum reserviert, um die schwierigeren Stellen des Konzerts zu üben bis sie saßen. Morgen bei der ersten Probe zusammen mit dem Orchester konnte er schließlich nicht mehr über die Noten stolpern. Er hatte Beethovens drittes Klavierkonzert früher schon gespielt und es ihm somit nicht neu. Aber das war vor über einem Jahr gewesen und das kam ihm vor, wie vor einer halben Ewigkeit. Er kannte die Noten, die Läufe und die Harmonien, aber er hörte sie jetzt ganz anders als damals. Er verstand nun Zusammenhänge, die sich ihm zuvor nicht in der Form erschlossen hatten. Jeden Tag merkte er, wie sehr ihm das alles gefehlt hatte. Ein Werk von Grund auf studieren, das große Ganze verstehen, sich auf die feinsten Nuancen einlassen und sich schließlich darin zu verlieren ...

Er war gerade bei einer kniffligen Stelle aus dem dritten Satz, die ihm noch nicht so recht gefallen wollte. Er schloss die Augen und stellte sich den Orchesterpart dazu vor, um eine Ahnung zu bekommen wie er die Stelle phrasieren sollte. Er probierte es auf die eine, dann auf die andere Art und bemerkte erst gar nicht, dass jemand hinter seinem Rücken in den Raum trat. Erst als ihm der Duft eines leicht herben Parfums in die Nase stieg und eine dunkel gekleidete Gestalt in sein Sichtfeld trat, fuhr ruckartig hoch. Es war Karina.

"Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid", sagte sie freundlich. "Ich bin gekommen, um dir nur sagen, dass sich die Probenpläne wieder geändert haben. Man hat uns beide für das Konzert zusammengespannt."

"Oh", sagte Erik überrascht. Er war bisher davon ausgegangen, dass Karina bei Jitkas Konzert dirigieren würde. Aber ihm konnte es nur recht sein.

"Dann bekommen wir die Gelegenheit gemeinsam etwas zu machen. Ich freu mich drauf", sagte er. Er hatte sich bisher nie mit ihr alleine unterhalten, immer waren Jitka oder Sylvie oder beide dabei gewesen. Aber seit Sylvie praktisch jeden Abend mit ihr verbrachte, war Erik neugierig geworden und er war froh darüber, mehr mit ihr zu tun zu haben. Und schließlich war sie auch Jitkas beste Freundin.

"Jiti ist vermutlich weniger begeistert von der Lösung", fügte er dann jedoch etwas skeptisch hinzu.

"Ach, an deiner Stelle würde ich ihr die nächsten zwei Stunden aus dem Weg gehen. Jean-Luc ist gerade losgegangen, um ihr die frohe Botschaft zu überbringen."

"Das wird schwierig, wir haben uns in einer halben Stunde verabredet," sagte er mit einem Lächeln.

„Umso besser", lachte Karina. „Ich glaube, du hast eine besänftigende Wirkung auf ihr aufbrausendes Gemüt. Und sie scheint dich echt gerne zu mögen."

"Ich sie auch", sagte er wie zu sich selbst, aber Karina nickte ihm aufmunternd zu und schien sehr zufrieden. Sie zog sich einen Sessel ans Klavier und dann begannen sie zusammen die Noten durchzugehen und Details für die morgige Probe zu besprechen, er spielte verschiedene Stellen an und Karina gab ihm den einen oder anderen Hinweis zur Dynamik im Zusammenspiel mit dem Orchester.

"Ich habe dir vorhin ein wenig beim Spielen zugehört", gestand sie ihm dann. "Du wirst immer besser. Mir kommt vor, du hast dich während des letzten halben Jahres als Musiker stark weiterentwickelt. Du spielst mit mehr Verständnis und Feingefühl und damit will ich nicht sagen, dass du das nicht vorher schon hattest. Im Gegenteil, das scheint mir eine deiner großen Stärken zu sein."

"Man kann nicht gerade sagen, dass ich vor einem halben Jahr wirklich in Form war", gab er zurück, etwas verlegen über soviel Lob und nicht ganz sicher, ob er es wirklich verdiente. War ihre Begeisterung für Sylvie etwa auf ihn übergeschwappt.

"Musikalisch warst du in Topform, soweit ich das vom Zuschauerraum aus beurteilen konnte. - Wie auch immer, ich freue mich auf die morgige Probe," sagte sie und stand auf. Nachdem sie gegangen war, spielte er noch einmal die Stelle aus dem dritten Satz, um die letzten Minuten im Proberaum zu nutzen, dann war es auch schon Zeit sich mit Jiti zu treffen.

Die Musikuni von Turin war ein pompöses im neobarocken Stil erbautes Gebäude, das um diese Zeit nahezu leer stand. Jedes noch so kleine Geräusch hallte durch die mit Säulen geschmückten Gänge des ersten Stocks und Erik war versucht, seine Füße beim Gehen nur ganz sachte auf die marmornen Bodenplatten zu setzen, um die feierliche Stille, die in dieser altehrwürdigen Institution herrschte, nicht zu durchbrechen. Er erreichte die großzügig angelegte Haupttreppe, und von dort konnte er auch schon Jiti erkennen.

Sie stand unten im Erdgeschoß und sprach mit einem Mann, der sie um mehr als einen ganzen Kopf überragte. Er erkannte Jean-Luc Admar, den anderen Finalisten aus der Dirigentenrunde, der nun Jitkas Konzert dirigieren sollte. Die beiden standen mit Notenmappen in der Hand dort und führten wohl ein ähnliches Gespräch, wie Erik und Karina vorhin. Aus Jitkas Körpersprache konnte er schließen, dass sie etwas irritiert schien. Aber das wunderte ihn nicht. Sie hatte schon während der letzten Tage über die sich immer ändernden Probenpläne geschimpft und vermutlich hatte sie sich sogar schon mit Karina zusammen vorbereitet. Wenn man sich in so kurzer Zeit ständig auf jemand Neuen einstellen musste, konnte das so oder so ausgehen. Im Zweifelsfall konnte man vermutlich noch sagen, das sei eine gute Erfahrung, um die Professionalität zu fördern.

Erik wartete hinter einer Säule, bis die beiden ihr Gespräch beendet hatten und ging dann hinunter um Jitka zu begrüßen.

An dieser Stelle möchte ich mich auch bei allen bedanken, die mir bisher Sternchen oder Kommentare hier lassen. Ich freue mich über jedes einzelne Feedback und mir bedeutet das viel, zu sehen, dass meine Geschichten bei Lesern ankommen und, dass die eine oder der andere auf Freude damit hat. Das motiviert außerdem ungemein :-)


Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt