Karina und Jitka hatten zuerst beschlossen das Pasta-Gericht, das allen am ersten Abend in Turin so geschmeckt hatte, nachzukochen. Nach genauerer Überlegung hatten ihre Erinnerungen daran, woraus dieses bestanden haben mochte, stark divergiert. Sie debattierten eine Weile lang darüber, ob es nun eher Pilze oder Auberginen gewesen waren und nahmen schließlich beides. Sie nannten das Endprodukt "Pastavariation Torino" und waren dennoch ganz zufrieden damit. Immerhin, es ließ sich gut vorbereiten. Sie hatten die Sauce noch vor der Fahrt zum Flughafen fertig gemacht und mussten nun nur noch die Nudeln ins Wasser schmeißen.
Sylvie und Erik wussten die Geste zu schätzen. Vor allem weil sie nach der Reise doch recht hungrig gewesen waren. Jitka strahlte, Erik sah etwas müde drein, wirkte jedoch ebenfalls sehr glücklich und zufrieden. Die beiden ließen einander kaum aus den Augen. Karina warf einen neugierigen Blick auf die Noten, die immer noch auf dem Klavierpult standen und lächelte. Der Sommertag für vier Hände und die mit Jitka und Erik beschrifteten Notensysteme, das sah nach einer ganz besonderen Liebeserklärung aus. Kein Wunder, dass Jitkas Gesicht derart leuchtete und Erik war bestimmt erleichtert, dass sein Werk ihren Beifall gefunden hatte.
Das war es also das gewesen, was sie nebenan mitgehört hatten. Karina musste sich sehr zusammennehmen um sich nicht sofort in die Noten zu vertiefen, aber das fühlte sich an, als würde sie irgendwie in die Intimsphäre der beiden eindringen. Vielleicht wollten die beiden ihr das Stück ja irgendwann einmal vorspielen.
Sie lehnte sich zu Sylvie hinüber. "Wollen wir einen Spaziergang machen?", fragte sie mit gedämpfter Stimme. "Ich wohne nur ein paar Ecken weiter, wenn du deine Zahnbürste einsteckst ..." Sie deutete mit erhobenen Augenbrauen zu Jitka und Erik hinüber, die wohl nichts dagegen haben würden, den Rest des Abends für sich zu sein.
Sylvie nickte nur. Sie stand auf und verschwand im Schlafzimmer, nur um ein paar Augenblicke später wieder mit ihrer Handtasche da zu stehen. "Ich bin bereit", sagte sie. Karina war erleichtert. Sie war sich nicht sicher gewesen, wie Sylvie auf ihren Vorschlag reagieren würde. Bei Sylvie konnte man sich nie sicher sein. Vor allem in letzter Zeit nicht. Einerseits fand Karina das interessant, andrerseits konnte das auch zermürbend sein.
Jedenfalls konnte Sylvie noch so oft betonen, dass sie nur ihrem Bruder zuliebe mitgekommen war. Karina wusste, dass das nicht stimmte. Oder zumindest nur teilweise. Sie schien zwar entschlossen auf ihren Bruder aufzupassen, jetzt noch mehr als je zuvor. Doch schien sie durchaus bereit, ihn für eine Nacht aus den Augen zu lassen, wenn Karina sie darum bat. Karina warf Erik einen kurzen verschwörerischen Blick zu. Auch er hatte vermutlich darauf spekuliert, dass das funktionieren würde und, dass er und Jitka so ein wenig ungestört sein konnten.
"Dann sind wir jetzt mal unterwegs, immer schön brav bleiben", sagte Karina und zwinkerte den beiden zu.
"Wenn irgendwas ist, ruf mich an, Erik", sagte Sylvie. "Und keine Geheimnisse diesmal", fügte sie hinzu, den Blick auf Jitka gerichtet. Es war ein Blick, der sagen zu schien: "Wehe Erik wird auch nur ein Härchen gekrümmt, dann reiß ich dir jedes Haar höchstpersönlich aus." Jitka, die sich solche Drohgebärden natürlich nicht bieten lassen wollte, erwiderte Sylvies Blick mit einem trotzigen Schmollen. Karina wusste, dass sie sich vermutlich gerade sehr beherrschte, um nicht mit irgendeiner patzigen Antwort zu kontern. Wäre Erik nicht dabei gewesen, dann hätte sie Sylvie jetzt vermutlich einiges erzählt. Einen Moment lang fixierten die beiden einander regelrecht mit ihren Blicken und keine schien sich abwenden zu wollen. Schließlich zupfte Karina Sylvie am Ärmel.
"Komm", sagte sie, bevor die beiden noch auf die Idee kamen einander anders, als nur mit Blicken aufzuspießten. Sie schnappte Sylvies Mantel vom Haken, half ihre galant hinein, um die Sache zu etwas beschleunigen, und schob sie zur Tür hinaus.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficción GeneralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...