Jitka kämpfte sich durch das glitzernde Gedränge des Silvesterballs bis in den Beethoven-Salon, in dem man die Sektbar aufgebaut hatte. Der windschiefe Flügel war verschwunden, ebenso wie die wenig glamourösen Plastiksessel. Man hatte die Wände mit gerafften Stoffbahnen verhängt, alles war mit frischen Blumen dekoriert und der Kristallleuchter an der Decke frisch poliert. Kaum noch etwas erinnerte an den kahlen Raum, in dem sie vor zwei Monaten geflucht, gestritten und sich schließlich mit Sylvie versöhnt hatte.
Draußen, im zum Ballsaal umfunktionierten Konzertsaal, dirigierte Karina gerade einen der letzten Walzer vor Mitternacht und Jitka hoffte, dass sie nicht schon zu spät dran war um noch für sie beide an Sektgläser zum Anstoßen zu kommen. Wenn man so klein war wie sie, wurde man ständig übersehen und weggedrängt. Da konnte sie ein noch so leuchtend rotes Kleid tragen, es nützte nichts. Sie richtete sich auf, um größer zu wirken, und drängelte hartnäckig weiter.
Auf dem Silvesterball der Prager Musikfreunde spielten zwei kleinere Tanzensembles, die einander stündlich abwechselten. Karina war nun in der Stunde vor Mitternacht, mit dem Ensemble dran, das sich aus fortgeschrittenen Mitgliedern des Jugendorchesters zusammensetzte, nach Mitternacht kam wiederum das Ensemble des Symphonieorchesters an die Reihe. Jitka hatte auf diesem Ball nichts zu tun, außer den Abend zu genießen und zu tanzen. Und das hatte sie bereits hinlänglich getan.
Die meisten der anderen Gäste waren ohnehin Musikerkollegen, und man kannte einander. Natürlich gab es auch einige von der lästigen Sorte, doch die meisten von denen hatte sie nach einem Walzer wieder loswerden können. Ihr dänischer Pianist hatte sich herumgesprochen, und sie hatte ihn beim letzten Konzert auch ausgiebig hergezeigt. Es bestand nun kein Zweifel daran, dass sie sich den keineswegs ausreden lassen würde.
Sie kam sich selbst etwas arrogant vor dabei, wenn sie sich darüber beschwerte, dass ihr ihre Verehrer lästig waren. Aber es war eben nie einer darunter gewesen, der es nur annähernd mit Erik aufnehmen konnte. Sie hatte bei keinem der Anderen das Gefühl, dass er es ehrlich meinte, dass er sie um ihrer selbst willen mochte. Früher hatte sie so gut wie keine Verehrer gehabt. Doch nun hatte sie ein wenig Erfolg, und das schien offenbar anziehend auf Manche zu wirken. Und sie war süß und klein, viele glaubten, man könne sie gut herumzeigen und herumkomplimentieren und waren schließlich enttäuscht oder sogar entrüstet, wenn sie bemerkten, dass sie ihren eigenen Kopf hatte.
Sie hatte dann öfter den Ratschlag bekommen, sie solle sich doch nicht nur an Leuten wie Karina ein Beispiel nehmen, doch Jitka wusste nicht recht, an wem sie sich sonst ein Beispiel nehmen sollte, wenn nicht an Karina. Nachdem sie sich mit Erik hatte sehen lassen, hatten einige vermutlich erleichtert darüber aufgeatmet, dass sie sich nicht in allen Punkten an Karina orientierte.
Nun ja. Und über die dänische Violinistin war schließlich noch wesentlich mehr getratscht worden, als über den dänischen Pianisten. Man konnte über Sylvie sagen, was man wollte, aber Eindruck hinterlassen, das hatte sie drauf. Alle fragten sich, warum jemand wie Sylvie nicht regelmäßig auftrat, wo sie doch, wenn sie damals weitergemacht hätte, heute eine Weltkarriere haben könnte. Selbst unter den Kollegen, die es eigentlich besser wissen müssten, fanden viele, dass eine rasche Weltkarriere unbedingt erstrebenswert war. Aus Sylvies Beispiel war wohl zu lernen, dass man sich vor allem rar machen musste, dann wurde über einen auch künstlerisch geredet. Selbst, wenn das Privatleben noch einmal so viel hergab.
Natürlich wurde auch darüber geredet, in welcher Beziehung Karina zu ihrer wunderbaren Solistin stand und wie sie die wohl an die Angel bekommen hatte. Meistens durchaus anerkennend. Karina hatte schließlich nie ein Geheimnis aus ihren Vorlieben gemacht und in Musikerkreisen gab es ohnehin nicht viel, worüber man sich wunderte. Vermutlich hatte Karinas Familie sich am Meisten gewundert. Obwohl die ebenfalls keinen Grund hatten überrascht oder schockiert zu tun, weil sie doch längst Bescheid wissen sollten, wie Karina immer wieder betonte.
Jitka grüßte im Vorbeidrängeln zahlreiche Bekannte, ergatterte tatsächlich einen Platz in der Schlange an der Bar und erstand zwei Gläser Sekt, mit denen sie sich dann, wie mit Karina verabredet ein Tischchen oben auf der Balustrade sicherte. Von dort hatte man einen guten Blick über das Geschehen. Sie schaute nach unten, wo Karina, die sich für den heutigen Anlass extra in ihren Frack gezwängt hatte, noch immer dirigierte.
Sie fingerte sich ihr Telefon aus dem Beutelchen, das an ihrem Kleid festgenäht war und schickte Erik eine Nachricht. Sie wünschte ihm jetzt schon mal Prosit Neujahr, nach Mitternacht würde sie das natürlich noch einmal tun. Vielleicht würde sie ihn auch einfach anrufen. Falls er noch wach war und das Handynetz es um diese Zeit irgendwie zuließ. Etwas früher hatten sie und Karina bereits Bilder von sich im Balloutfit an Erik und Sylvie geschickt. Eriks Antwort war auch gleich gekommen.
Sie freute sich dieser Tage immer doppelt darüber, mit ihm zu sprechen und Nachrichten von ihm zu erhalten. Sie war ziemlich erschrocken, als er ihr nach ihrer Rückkehr aus Moskau von seinem Krankenhausaufenthalt erzählt hatte und auch wenn er immer wieder betonte, dass das alles nur halb so wild gewesen sei, so merkte sie doch auch, dass ihm alles was er tat täglich schwerer zu fallen schien. Sie merkte doch, wie müde er manchmal war, wenn sie miteinander sprachen. Und sie wünschte sich nichts mehr, als ihn einfach umarmen und an sich drücken zu können, um ihm Mut zu machen, und auch sich selbst. Um zu spüren, dass er wirklich noch da war. Drei Tage noch. Nicht einmal. In einigen Minuten konnte sie schon sagen übermorgen. Dann konnte sie ihn wirklich in die Arme schließen.
Sie fragte sich, was er jetzt wohl gerade tat, und wie es ihm ging. Er hatte ihr erzählt, dass er sich darauf freute, den Abend nur alleine mit Sylvie zu verbringen. Er schien die Ruhe und Einsamkeit so großen Feierlichkeiten vorzuziehen. Ob das immer so war, oder nur jetzt, weil er sich nicht gut fühlte? Eines Tages wollte sie ihn auch hier auf dem Silvesterball dabeihaben. Ob er tanzen konnte? Das musste sie ihn das nächste Mal fragen.
Während sie so in Gedanken versunken dastand, merkte sie kaum, dass die Musik bereits aufgehört hatte zu spielen. Unten auf der Orchesterbühne wurde schon wieder herumgeräumt, damit die Gruppe aus dem Symphonieorchester wieder Platz nehmen konnte. Karina kam angerannt, verschwitzt und aufgekratzt, aber der Frack stand ihr richtig gut. Schade, dass sie den nicht öfter anzog, aber Jitka konnte verstehen, dass das auf die Dauer recht unbequem war. Selbst wenn der Frack immer noch quasi als die inoffizielle Standarduniform für Dirigenten galt.
"Bereit fürs neue Jahr?", fragte Karina.
"Und wie!", antwortete Jitka und überreichte ihrer Freundin eines der Sektgläser, in den nächsten Augenblicken kamen noch einige von Karinas Musikern dazu. Matěj, der Bratscher und noch einige andere, ebenfalls mit Sektgläsern bewaffnet. Der Countdown wurde abgezählt, der Perkussionist ahmte ein Uhrenticken nach und dann um Schlag zwölf ein stattliches Glockengeläut, das überging in die Klänge der tschechischen Hymne, die allerdings nicht lange dauerte. Schließlich hatte sie nur eine einzige Strophe.
Alle fielen einander um den Hals, stießen mit Sektgläsern an und wünschten einander: „Šťastný nový rok!" Anschließend wurde zur Mitternachtsquadrille gerufen. Normalerweise machte Jitka so etwas immer Spaß, aber im Moment hatte sie was anderes vor. „Komm!", sagte sie zu Karina, nachdem sie ihren Sekt getrunken hatten, und packte sie am Arm. Diese wusste, was Jitka vorhatte und ließ sich mitschleifen.
Sie liefen durch die Gänge und schließlich hinaus auf den Altan, der sich über dem Eingang des Palais Pernštejn befand. Wer sich im Gebäude nicht auskannte, kam nicht auf die Idee, dass man dort hingehen könnte. Sie traten hinaus ins Freie, Jitka warf sich ihr warmes Schultertuch um und vor ihnen stiegen Blumen aus Feuerwerk über der rauchumwölkten Stadt auf. Es roch leicht nach Schwefel und als sie das Telefon zur Hand nahmen, stellten sie sich vor, wie es irgendwo in einem stillen Haus am Rande Kopenhagens gerade klingelte.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Художественная прозаManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...