60. Kapitel

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Erik war ziemlich froh darüber, wie der gestrige Tag verlaufen war. Es war ihm gelungen, einige der Knoten zu lösen, von denen er während der letzten Tage das Gefühl gehabt hatte, dass sie sich immer fester zusammenzogen. Vielleicht hatte er sich nur wieder umsonst zu viele Gedanken gemacht. Vielleicht war es das Beste, einfach nur darauf zu vertrauen, dass sich alles schon irgendwie ergeben würde. Und die anderen würden das dann auch tun.

Jitka schien sich ihm auf jeden Fall anschließen zu wollen, wenn er ihr sagte, dass er daran glaubte, dass alles gut ausgehen würde. Er konnte sie nicht daran hindern sich Sorgen zu machen. Aber er konnte versuchen diese immer wieder ein wenig zu zerstreuen. Sie verstand ihn doch und sie wusste auch, dass er diesen ständigen Elefanten nicht im Raum haben wollte. Und, dass es besser war manchmal etwas direkt anzusprechen, und es damit vom Tisch zu haben. Auch wenn der Elefant es oft gut verstand, sich zu tarnen und er ihn nur als diffuses Gewicht wahrnahm, das ihn niederdrückte und einfach nicht weggehen wollte.

In der Tat hatte er sich anfangs ziemlich unbehaglich dabei gefühlt, sich mit Jitkas Erlebnissen aus Moskau zu konfrontieren, aber das war es wert gewesen. Und so wichtig. Für sie beide. Nachdem er die Bilder der strahlenden Jitka gesehen hatte, in einem dunkelgrünen Kleid mit golden glitzernden Verzierungen am Ausschnitt, nicht in Rosa, so wie er sie in seinem Traum gesehen hatte, da hatte er sich auf einmal ganz leicht gefühlt. Es war ihm nie schwergefallen, sich für sie zu freuen, aber nun hatte er Bilder dazu, alles war viel konkreter, irgendwie realer geworden und er schien damit seine eigenen Erlebnisse ein wenig überlagern zu können. Sie traten in den Hintergrund, jetzt wo er eine konkrete Vorstellung davon hatte, was alles gleichzeitig stattgefunden hatte.

Und Jitka hatte ebenfalls wieder ein viel besseres Gefühl dabei. Er war ein wenig erschrocken, als ihm klar wurde, wie sehr sie sich bemüht hatte das alles von ihm fern zu halten. Aus Rücksicht ihm gegenüber, da sie befürchtet hatte, seine negativen Erinnerungen könnten ihn erneut belasten.  Er hätte das schon viel früher bemerken müssen und er wollte so etwas nicht zulassen. Er wollte von jetzt an offener mit ihr reden, damit sowas nicht wieder vorkam. Er durfte nicht zulassen, dass sich sein eigenes Unglück auf alle um ihn herum ausbreitete. Dabei ging es doch auch umgekehrt. Es würde ihnen doch allen besser gehen, wenn sie sich darauf verlegten, vor allem ihre angenehmen Erinnerungen und Gefühle zu miteinander teilen und aufeinander zu übertragen.

Was seine Schwester betraf, war er ebenfalls erleichtert. Er würde sie bestimmt nicht davon abbringen können, ständig das Schlimmste anzunehmen, aber er konnte sie vielleicht immer wieder in die richtige Richtung anstupsen. Auch Karina, die er ohnehin als seine Verbündete betrachtete, wenn es um Sylvie ging, schien ihr Möglichstes dazu zu tun. Und es schien zu funktionieren.

Er bedauerte, dass gestern nicht mehr Zeit gewesen war, um mit den beiden zu plaudern. Er war neugierig zu erfahren, wie die Proben liefen. Er wollte in Sylvie hineinschauen und wissen, wie es ihr ging, so wenige Tage vor dem Auftritt. Seit ihren großen Konzerten war viel Zeit vergangen. Er war damals noch Schüler gewesen, hatte ihr nachgeeifert, er hatte sich auf die Aufnahmeprüfung zum Konservatorium vorbereitet, aber kurz nachdem sie ihn in Stockholm aufgenommen hatten, da hatte Sylvie beschlossen nicht mehr zu spielen. Sie hatte gewiss ihre Gründe gehabt und mittlerweile konnte er diese gut nachvollziehen. Auch wenn er nie so erfolgreich gewesen war, wie seine Schwester, und seine Situation jetzt eine ganz Andere war, trug er sich ja selbst mit dem Gedanken andere Wege einzuschlagen. Natürlich war noch nichts entschieden ...

Jetzt fragte er sich, ob ihre Beweggründe von vor zehn Jahren immer noch galten, oder ob es sich nicht lohnen konnte, diese noch einmal einer Überprüfung zu unterziehen. Er würde nach dem Konzert mit ihr darüber reden. Und auch mit Karina.

Nachdem Jitka die Wohnung verlassen hatte, setzte er sich ans Klavier, spielte sich durch eine Bach-Fuge, die er auswendig konnte, doch er bemerkte, dass seine Gedanken immer wieder abschweiften und er sich nicht richtig konzentrieren konnte. Er war ungeduldig, er wollte jetzt nicht diese Fugen spielen und auch nichts anderes. Er wollte das Duett mit Jitka aufnehmen und konnte es kaum erwarten. Und er wollte viel lieber Jitka und Sylvie bei der Probe zuhören.  Jedenfalls hielt er es nicht aus, weiter hier in der Wohnung die Zeit tot zu schlagen.

Er nahm sich den Zettel her, auf dem Jitka ihm aufgeschrieben hatte, welche Straßenbahn er nehmen musste, überprüfte die Aufnahmeutensilien in seinem Rucksack und machte sich auf den Weg. Es war ein strahlend sonniger Tag und obwohl es bereits spät im Oktober war, kam es Erik eher frühlingshaft vor. Wären da nicht überall schon die braunen Blätter auf dem Boden gewesen. Es war nicht schwer, das Palais zu finden, dessen weiße Fassaden in der Sonne strahlten und das inmitten eines ein wenig verwilderten Parks mit vielen Bäumen und gelben Blättern stand.

Er trat ein durch das hohe Portal und stieg langsam und sich umsehend die Marmortreppe empor. Aus dem ersten Stock hörte er bereits die bekannten Klänge der Elegie. Er kannte das Stück mittlerweile auswendig, nur dass es diesmal eben Jitka war, die statt ihm mit Sylvie zusammen spielte. Lächelnd blieb er im Stiegenhaus stehen und wollte ein wenig abwarten, bis sie unterbrachen, um nicht zu stören. Irgendwie waren sie noch nicht ganz beisammen, stellte er fest, während er lauschte. Aber dazu waren Proben ja gedacht ... Sylvies Bogenstriche klangen nicht so weich und fließend wie sonst. Und noch während er sich darüber wunderte, riss das Spiel ab, zuerst das Klavier und dann die Geige. Er hatte nicht recht erkennen können warum. Vielleicht hatte Karina die beiden unterbrochen, um etwas anzumerken. Die Sache war definitiv irgendwie unrund gelaufen. Vielleicht war das die Gelegenheit für ihn, um sich in den Konzertsaal zu schleichen, dachte er und näherte sich der Saaltür.



Mittlerweile sind wir bei Kapitel 60 angelangt, in dem es zugegebener Maßen recht gemächlich zugeht, aber ich nehme an ihr ahnt bereits, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm sein kann ;-)

Übrigens, wie steht ihr eigentlich zu solchen Kapiteln, in denen hauptsächlich nachgedacht und philosophiert wird? Mir ist aufgefallen, dass vor allem Erik das gerne macht, aber ich bin mir nicht ganz sicher in welchem Ausmaß das den Lesern auch zuzumuten ist ;-)

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt